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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 543

Text

BUET: HENRY DE GROUX.

boren. Sein Vater, Charles de Groux, ist
der Schöpfer jener prächtigen Glasfenster
in der Collegiatkirche der heiligen Gudula
und hat Berühmtheit erlangt durch eine
Anzahl von Werken, die in den Museen
und Gallerien Belgiens vereinzelt zu finden
sind.

Französischen und bourbonischen Ur-
sprungs, erinnert Henry de Groux in
ungewöhnlich starker Weise an einen
mystischen Schriftsteller bester Race, der
seinen Ruhmesgipfel bereits erstiegen hat,
an Ernest Hello. Dies ist der nämliche
Typus. Die Physiognomie deckt sich hier
vollkommen mit dem intellectuellen
Temperament; der Maler ist gleichfalls
Mystiker, ein »Impressionist der Ideale«,
wie man ihn genannt hat, ein meditieren-
der Küustler, nachdenklich, suggestiv,
gänzlich hingegeben den Träumen seiner
hieratischen Beschwörungen.

Er war ein sehr schlechter Schüler,
besuchte die Akademie Brüssels, kreuzte die
Akademie der schönen Künste in Paris
und kehrte hierauf in seine Heimat zurück,
um daselbst — allen Einflüssen fern —
in der wildesten Einöde zu arbeiten.
Trotz dieser Zurückgezogenheit wurde er
bald von dem Schriftstellerkreis Jung-
Belgiens entdeckt und begeistert gepriesen:
so von Georges Eckhoud, Jules Destrée,
Fernand Sèverin, Eugène Demolder, Camille
Lemonnier. Henry de Groux hat in Paris
nur wenige seiner Bilder ausgestellt; um
so reicher war der Salon der »XX« und
die »Exposition Triennale« in Brüssel
beschickt; u. a. sah man dort auch den
berühmten (14 Meter langen und 3 Meter
hohen) Fries, der den Titel trägt: »La
Procession des archers de Machelen.«

»Man wird von der Hand eines Kin-
des sprechen, die von einer unsichtbaren
und überirdischen Hand geführt worden;
die Kinderhand hat gezittert, aber sie hat
seltsame und ungewöhnliche Dinge ge-
zeichnet.« So urtheilte einer der belgischen
Kritiker, Fernand Sèverin, unter dem
ersten Eindruck des »Christ aux Outrages.«

Auf Viele mag dieses Gemälde einen
grausamen und ungesunden Reiz ausüben,
Vielen mag es gänzlich missfallen. Es

wirkt vielleicht wie ein Alpdrücken; aber
es wirkt auch wie eine Phantasie E. T. A.
Hoffmanns und ist das Werk eines Mannes,
der mehr Dichter als Maler scheint.
Einen Baudelaire hätte es erbittert. — Die
Composition hat nichts Conventionelles;
man sieht darin weder Archäologisches
in Aufbau und Costümen, noch besondere
Künsteleien in Zeichnung und Perspective,
noch beabsichtigte und gesuchte Effecte,
noch die »Klaue des Fachmannes«. Alles
ist sozusagen kurz gefasst, unvollständig,
mit kleinen Unbeholfenheiten und unfrei-
willigen Nachlässigkeiten.

Aber über Alles siegt die erhabene
Harmonie des Ganzen, die heisse, heftige
Farbe à la Delacroix, die jungfräuliche
Naivetät, die erstaunliche Jugendfrische
in einer so alten Kunst, die herrliche
Kühnheit, die Impetuosität eines eigen-
sinnigen Kindes, die herausfordernde Ge-
walt, die in Verwirrung bringt, bewegt,
bezaubert und schreckt.

Wahrlich, dieser gegeisselte, blutende
Jesus hat keine menschliche Gestalt mehr.
Er ist das zuckende Opfer der Gewalten,
der Gottmensch, der umgekommen im
stinkenden Pfuhle der Pöbelwuth und des
Pöbelhasses. Und vor ihm breitet sich
all Das aus, was die Niedertracht unserer
unbeständigen Natur an Gemeinstem und
Verworfenstem zu zeigen vermag. Kupp-
ler und Dirnen, Schmähreden auf den
Lippen, aus denen Geifer quillt; Elende,
die der Erlöser schreckt, tolle Mütter, die
ihre kleinen Kinder die Fäustchen ballen
lehren wider den Gepeinigten. Kinder
selbst werden berufen, den unschuldig
Leidenden zu besudeln! Welch ein Sym-
bol! — —

Diese blinden Greuel, diese albernen
Wuthausbrüche, diese Verwirrungen der
grausamsten Instincte, sind sie nicht stets
— nach 20 Jahrhunderten! — sich gleich
geblieben? »Sein Blut komme über uns«,
riefen die Pharisäer Es kommt
über uns, dieses mystische Blut; Greuel
häufen sich — just eben in unseren
Tagen — auf Greuel, Schmach häuft sich
auf Schmach, Unschuldige sterben unter
dem Ansturm der niedrigsten und höchsten
Gewalten, Bedrängte, Schwache, Sonder-
geartete erliegen der Brutalität ihrer Mit-
brüder, der heilige Regen aber wird noch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 543, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-23_n0543.html)