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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 544

Text

BUET: HENRY DE GROUX.

Jahrtausende lang fortbluten auf unseren
Stirnen.

Von Interesse mag es sein, was Léon
Souguenet über einen Besuch bei de Groux
in einer erschöpfenden Studie berichtet:

In Brüssel betrat ich einst um die
Dämmerzeit zum erstenmale das Atelier
des Künstlers. Die Stunde, die mich in
diesen weiten Saal geführt, ward eine der
wichtigsten und wertvollsten meines Lebens.
Das Dunkel senkte sich bereits herab,
doch hielt das Gold der Rahmen noch
einige Lichtpunkte zurück. Alsbald nahm
der Meister, der mir entgegenkam, meine
ganze Aufmerksamkeit gefangen — eine
befremdliche Figur, die man studieren
muss, will man sie verstehen. In der Nähe
eines hohen Glasschrankes, von dem die
Lichtblitze der sterbenden Dämmerung
abglitten, stellte er mich vor eine Lein-
wand, auf der er die Züge Baudelaires
hatte aufleben lassen. Die Gestalt des
Dichters beschwor mir den Zauber seiner
Werke bewunderungswürdig herauf; seine
Augen leuchteten auf in den lebhaftesten,
intensivsten Träumen; die Gedanken häm-
merten hinter dieser mächtigen und finsteren
Stirn; um sein Antlitz spielten die Phan-
tome der »Blumen des Bösen«. Dieser
schöne Commentar, durch den mir ein
grosser Maler einen grossen Dichter näher
gebracht, ist stets in meiner tiefsten Er-
innerung geblieben und hat mir das Werk
Baudeiaires in eine neue Offenbarung ge-
wandelt.

Später sah ich de Groux recht oft
wieder; aus seinen Bildern lösten sich mir
erhabene Ideen: es lag in ihnen eine ge-
waltige Deutung unseres Jahrhunderts. Ich
erkannte mehr als einen »Denker« in
dem Maler — ich fand einen jener Be-
rufenen in ihm, die durch ihre blosse
Selbstentwicklung, durch ihr blosses Kunst-
schaffen zu Neuerern und Erweckern
werden.

Das Zeichen eines höheren Geistes,
sagt Taine, ist der »Blick für das Ganze«.
Dieses Zeichen flammt lichterloh bei de
Groux; denn stets hat ihm schöpferische In-
telligenz, gepaart mit dem überschauendsten
»Blick für das Ganze«, vielleicht ohne sein
Wissen, die Bildnerhand geführt. Zur
Nachdenklichkeit zwingt dieser Meister

mit Gewalt. Seine Malerei stellt nicht
bloss Facten vor uns hin. Sie bringt stets
menschliche Dramen, die den Sinn an
die grossen Probleme heften, und berührt
stets wie die Schöpfung eines Mannes,
der da wissend, denkend und sehend ist.
Bewundern muss man an ihm allerdings
auch die Farbe, die Zeichnung, die Linie;
aber jene tiefe Unterweisung, die sich uns mit
dem heftigsten Ungestüm des Lichtes
mittheilt, und die man mit sich nehmen muss,
ob man nun will oder nicht, wie einen
fruchtbaren Keim, — ich glaube nicht,
dass sie uns irgend ein anderer Meister
jemals eindringlicher zu geben vermocht
hätte, als de Groux. Als hauptsächlichstes
Mittel diente dabei durchaus nicht immer
der Symbolismus. Vielmehr ist seine Kunst
stets rechtschaffen, gerade; sie wendet
sich — und dies mit Heftigkeit — an die
Einfachen, Arglosen, nicht an das Publicum
der Salons, nicht an die pharisäischen
Hohepriester der Kritik; sie ist eine kräf-
tige Maulschelle für alle Snobs und für
die zerfliessenden Dichter, die nur zu
heucheln pflegen, wenn sie bewundern.
In ihr offenbart sich jene Kraft der Sug-
gestion, die nur den grossen Künstlern
eigen war; und hier sprechen auch —
ich weiss nicht, welcher magische Zauber
dies bewirkt — der Himmel, die Erde,
die ineinandergeflochtenen Leiber, die
heulenden Pöbelrotten, die Linien, die
Luft — — dies Alles spricht mit einer
überirdischen Stimme, die Alle verstehen,
ohne sie verstehen gelernt zu haben.

Der Künstler selbst aber hat einmal
über die rein malerischen Empfindungen, die
sein Schaffen begleiten, folgendermassen
geschrieben:

Ich liebe, wahrhaftig, die Farbe, das
Ausschweifende der Farbe, das Linien-
Chaos, das Turbulente meiner Kunst! Ich
liebe das mit Leidenschaft; ich liebe es in
seinen Excessen und wegen seiner Excesse,
um seiner Körperlichkeit, um seiner
Stofflichkeit willen, mit allen Raffine-
ments eines vom Dämon Besessenen! Der
blosse Anblick einer frisch hergerichteten
Palette bringt mich in Aufruhr und schnürt
mir den Kehlkopf zu — wie es oft den
Hysterikern geschieht, wenn sie der Reiz

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 544, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-23_n0544.html)