Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 608

Die Düse in d’Annunzios »Gioconda« (Lindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 608

Text

THEATER.

Raimundtheater. — Gastspiel
der Duse: »Die Gioconda«, Tra-
gödie von d’Annunzio.

»Nichts gibt mehr Ausdruck und Leben
als die Bewegung der Hände; im Affecte
besonders ist das sprechendste Gesicht
ohne sie unbedeutend.« So Lessing im
»Laokoon«.

Von jeher hat die Cheironomie, die
Kunstphilosophie der Hände sozusagen,
die Entwicklungslehre jener Arabesken,
die sich unter dem Druck der Affecte
im Umkreise der Arme zu bilden haben,
einen Specialwinkel in der Ästhetik der
Schauspielkunst eingenommen: so von den
Alten an, denen die Rhythmik und Sym-
bolik der Handgesten die subtilste Aus-
bildung verdankt, über William Hogarth
hinweg, der den Händen der Schauspieler
die zierlichsten Schlangenlinien zur Pflicht
gemacht, bis zu Goethe, der dem deutschen
Theater die Cultur des Sitzens, Stehens,
Gehens und Armbewegens gegeben.

Und nun sah man heute die Duse
als Silvia Settala, mit »handlosen Armen«,
die unter dem Kleide geborgen hiengen,
ein Spiel der Augen, Lippen, Lider und
aller Gesichtsnerven entfachen, das dieses
»sprechendste Gesicht« bedeutsamer denn
jemals werden liess und die verseelende
Macht ihrer inneren Flamme restlos in
Blick und Stimme trieb. In einem asch-
farbenen Chiton, der in langer, gerader
Linie von den Schultern zu den Füssen
ihre schlanke Gestalt umglitt, schien sie
wie ein astloser Stamm, der von innen
her erglühend alle Blutbächlein in die
Krone lenkt, weil kein Astwerk zu nähren
ist, und dort ein dreifaches Leben zeugt.
So ergab sich die geschlossenste Confluenz
der psychischen Reflexe zwischen Augen
und Lippen, ein lichtvolles Fluctuieren von
so spiegelnder Vehemenz, dass alles Innerste
blossgelegt und nach oben getrieben

schien; jeder Gestus, jedes „Porte-bras
ward hier von vornherein zur Unmöglich-
keit, nicht weil uns Silvia ohne Hände
kommen muss, wie der Dichter will, wohl
aber, weil dieses blendende Spiel der Seele,
das sich auf dem Antlitz der Duse ent-
zündete, durch jede zeichnerische Be-
wegung aus psychischen Harmonien ge-
rüttelt und ins Bereich der irdischen
Schwere hinabgezogen worden wäre.

Eingeweihte wissen, dass die tiefinnerste
Schönheit der Farbe durch Linien-Umrisse
in ihrer erlauchtesten Wirkung gestört wird
und dann nur sich königlich zu offenbaren
vermag, wenn sie wie etwas Organisches
aus sich selbst heraus kraft ihrer inneren
Logik Formen treibt. Hier erlebte man
etwas Ähnliches: Affect, der aus sich selbst
heraus ohne körperliches Dazuthun Er-
scheinung wird, Seele ohne Futteral so-
zusagen, Flügelschläge ohne Sichtbarlich-
keit der Flügel, psychische Schwingungen,
die unmittelbar, durch das Medium der
Augen oder der Stimme hindurch, Blick-
und Klangfiguren in den Lüften bilden und
sich anderen Seelen auf diesem Wege rein
intuitiv und gleichsam telepathisch mit-
theilen. So stellte sich wohl bei Manchen,
denen die Kunst des Lauschens kein Ge-
heimnis ist, die seltsame Empfindung ein,
als stünde man den völlig entmaterialisierten
Phänomenen: »Auge« — »Stimme« gegen-
über. Und diese eine Empfindung ist
die einzige Bereicherung, die wir der Duse
als Silvia und dem Dichter verdanken.

Über d’Annunzios Stück, das neben
lyrischem Haschisch nichts als Kälte gibt,
sei ein anderesmal gesprochen. Das Genie
der Duse aber des breiteren hier zu loben,
liegt kein Anlass vor. Der Applaus in
Worten ist, wo es der Vollkommenheit zu
danken gilt, durchaus nicht edler als die
Barbarei des Klatschens.

ANTON LINDNER.


Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. —Verantwortlicher Redacteur:
Anton Lindner.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I. Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 608, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-25_n0608.html)