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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 609

Text

GABRIELE D’ANNUNZIO: ZWEI SONETTE. ARTIFEX GLORIOSUS.

Ich kann das Gold wie Benvenuto zwingen!
Mag Göttertraum, mag Menschentraum dich blenden,
Befiehl: und meinen sieggewohnten Händen
Wird das erlesenste Gefäss entspringen.

Soll auf dem Henkel hier den Faun ich bringen,
Zu dem Waldgötter sich und Nymphen wenden?
Soll ich dir der Titanen Schlachten spenden?
Laut lärmend wird das stumme Gold dann klingen.

Ein Wink! Es schreiten dir in Doppelreihe
Die Jünglinge und Jungfrau’n der Athene
Mit streng gefaltetem Gewand entgegen.

Kein Nass gewährt dem gold’nen Becher Weihe!
Es sei denn deines Auges reine Thräne,
Das reinste Blut, das deine Adern hegen.

DER SITTENRICHTER.

Die Hecken kahl, vorbei ihr Rosentragen!
Die Kränze fort, der Becher leer, o Schrecken!
Ich trank und trank. Wer kann den Rausch entdecken,
Der fremd mir blieb? Mein Ziel war: Alles wagen!

„Was wirst du thun“, hör’ ich den Alten fragen,
„Soll jemand dich durch Schläge neu erwecken?
Willst du die Wangen ihm entgegenstrecken?
Strick oder Büsserhemd! Wähl’ ohne Zagen!“

Ich wähl’ den Strick; er wird dem Halse frommen,
Dem zwanzigjährigen! Doch, Weiser, rede:
Kann’s unbekannte Wohllust für mich geben?

Dann sei als letzter Lehrer angenommen,
O Alter; denn ich weiss, tief kennst du jede
Unwürd’ge Schmach in diesem Menschenleben!*

* Deutsch von Walter Kaehler.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 609, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0609.html)