Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 2

Die Kaiserin Farbe und Linie, I. (Khnopff, FernandLindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 2

Text

FARBE UND LINIE.
Ein Versuch.
Von ANTON LINDNER (Wien).
I.

Die gegenwärtige Ausstellung der
»Secession« verblüfft, weil sie sich — im
Anschlusse an die zum Theile falsch ver-
standenen Ausführungen Max Klingers —
auf Hand- und Druckzeichnungen, Pastelle
und Aquarelle beschränkt, das Ölbild aber
ausschließt. Gegen diese Scheidung sei
hier nichts vorgebracht, obzwar sie sich
an überwundene Differenzierungen klam-
mert; dass sie aber — wie das Vorwort
des Secessions-Kataloges besagt — von dem
Merkmal der »Raumwirkung« ausgeht, die
angeblich nur dem »Bildhaften« eigne, dem
»decorativ Aufgefassten« aber fehle, ist
ein kunst-psychologischer Lapsus, der nicht
unerwähnt bleiben darf. Denn einerseits
gibt es heute nichts »Bildhaftes«, das nicht
gleichzeitig »decorativ aufgefasst« wäre,
und andererseits lässt sich heute, sofern
man nur mit wachen Augen in die Kunst
sieht, nichts »decorativ Aufgefasstes«
denken, das nicht gleichzeitig irgendeine
Raumwirkung suggerieren würde. Perspec-
tivische Raumwirkung im wörtlichen Sinne
dieses Terminus scheint mir eben mit
Unrecht als Specificum des Bildhaften zu
gelten — und es ist gar nicht einzusehen,
warum wir heute noch dem bildhaften
Element in der Malkunst das flächen-
decorative Element in Malerei und Zeichnung
entgegenstellen. Hat man denn — um nicht
gerade auf Rembrandt, Velasquez oder
Whistler zurückzugreifen — von den
jüngsten Schotten,* die übrigens fast nur
in Öl malen, nichts gelernt? Weiß man
nicht, dass uns ihre unvergleichlich subli-
mierte Kunst eine wesentlich neue und
psychische Raumwirkung zu Bewusst-
sein gebracht, die mit der äußeren Raum-
wirkung des gemeiniglich »Bildhaften«

nichts zu thun hat und ausschließlich
durch das decorative Element der Farben-
flächen, Flecken und Punkte geweckt
wird? Wo blieb die äußere Raumwirkung
in diesen schottischen Tafeln, die decora-
tiver fast als Teppiche waren und dennoch
— auch in technischer Hinsicht — mit
großem Recht als Bilder genommen wurden?
Die Raumwirkung kann eben, wenn wir sie
zu einem entwickelteren Sinne erheben, nichts
äußerlich Construiertes, nichts objectiv Sicht-
bares und räumlich Trennendes sein. Sie
hängt durchaus nicht von Realitäten ab,
die ein räumliches Verhältnis bilden, geo-
metrisch sich abgrenzen und perspectivisch
sich gruppieren. Sie hat sich vielmehr aus
dem Object in unsere Seele geflüchtet,
kommt also nur subjectiv zur Geltung.
Ölbildern, auf denen sich die Figuren und
landschaftlichen Ausschnitte nur als Sub-
strate für Form- und Farbenspiele geben,
ist sie fast in demselben Maße eigen, wie
Aquarellen, Pastellen und Producten der
Graphik (Handzeichnungen, Druckzeich-
nungen etc.). So mag es vielleicht just
gerade die Raumwirkung sein, die — ur-
sprünglich als trennend aufgefasst, weil
äußerlich genommen, — alle Gegensätze
zwischen den Techniken aufhebt und einen
einheitlichen Eindruck aller malerisch-
zeichnerischen Gestaltungsarten ermöglicht!

Die Vorurtheilslosen wissen schon
lange, dass alle hohe und niedere Kunst
dort, wo sie sich nicht durch die Stimme
des Marktes oder durch zeitgemäße, aber ver-
logene Entwicklungsphasen verunreinigen
ließ, von jeher decorativ gewesen; vom
Decorativen gieng sie aus und ins Deco-
rative verlief sie sich stets am Ende jener
großen Stil-Epochen, durch die sie immer

* Vgl. »Die Boys of Glasgow« in Heft 11, Seite 271 ff. dieser Zeitschrift.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 2, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0002.html)