Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 3

Die Kaiserin Farbe und Linie, I. (Khnopff, FernandLindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 3

Text

LINDNER: FARBE UND LINIE.

wieder aufs neue ins Innerste ihres Wesens
zurückgeführt wurde. Das künstlerisch
decorative Bild hat nun die merklich-
unmerkliche Tendenz, sich aus seiner ver-
ticalen Lage gleichsam um die Querachse
des Rahmens, der in Ruhe bleibt, wand-
wärts ins Horizontale zu schieben. Von
der Schwere des Materials befreit, das sich
eine ihm immanente Technik erzwungen
hat, lösen sich die Linien und Farben —
dies mag nur physiologisch zu erklären
sein — vom Untergrunde los und kommen
in schaffende Bewegung, indes das Papier
oder Linnen fast transparent wird oder
schwindet. Flächen und Linien, sich selbst
überlassen
, formen sich im Auge des Be-
schauers zu rhythmischen Visionen, nehmen
belebte Gestalten an (für die ein Terminus
noch nicht gefunden ist, die aber den
»Klangfiguren« in der Schwesterkunst
Musik analog sein mögen), verdichten sich
zu Rundungen und Kanten, dehnen,
strecken sich nach allen Pfeilrichtungen,
verflüchtigen sich ins Unendliche und
fügen sich in der Seele des Betrachters
zu perspectivischen Raumverhältnissen,
die zwar äußerlich nicht existent sind,
aber von innen her stets von neuem auf
Augenblicke entstehen. Dass diese Vor-
gänge sich zum großen Theile in unseren
Nerven abspielen und objectiv nicht be-
stehen, kann gleichgiltig sein; wir haben
eben anders sehen gelernt als die Lao-
kooniden — und andere Empfindungen
verlangen andere Begriffsbildungen, wenn
auch der Empfindungs-Erreger derselbe ge-
blieben ist seit vielen Jahrhunderten.

Wer wollte beispielsweise behaupten,
dass uns heute —wie überhaupt in den besten
Epochen der Kunst — ein edel gefügter
Teppich nicht in ekstatische Bewunderung
versetzen könnte; er ist schön, ist deco-
rativ, ist anmuthig oder auch machtvoll
in Farbe, Form und Zeichnung. Ja, es
geschah des öfteren, dass sensitive Men-
schen unter dem Eindrucke absonderlicher
Linien oder malerischer Zusammenklänge
in Thränen sich schüttelten. Und wenn
der Schreiber dieser Zeilen, vom Leben
oft verprügelt, unsäglichem Leid zu wehren
hatte, gab ihm ein Blick auf eine wunder-
sam klingende Linie oder auf eine selt-
sam vertiefte Farbe — die ihm aus irgend-
einem Stück Natur, aus einem ungewöhn-

lichen Bilde, aus einer kostbar geformten
Bronze, aus einem flackernden blauen
Flämmchen oder auch nur aus einem
Glasstück entgegendämmerte — nicht
selten jene psychisch befreiende Kraft,
die sich die Jünglinge vergangener Zeiten
aus Fichtes »Reden an die Nation«, aus
Schillers »Räubern« und »Fiesco« oder
aus Vater Jahns Toasten mühsam hervor-
holen mussten. Möglich, dass dieses Ver-
hältnis des Künstlermenschen zu den
Linien und Farben, das den wenigsten
geläufig ist, im Grunde pathologisch
scheint. Aber wie wäre solch ein »patho-
logisches« Verhältnis denkbar, wenn
Flächen nur wie Flächen, Linien nur wie
Linien, Punkte nur wie Punkte zu unseren
Sinnen sprächen und keinerlei emotionelle
Tendenz verrathen würden? Man kann
dieses Tendieren der Farbe, das
vielleicht nur eine Täuschung des Seh-
nervs ist, in primitivster Weise beispiels-
weise schon an Tintenklecksen beobachten,
die sich mit den radialen Ausläufern auf
ihrer Unterlage zu dehnen und zu strecken
scheinen, obzwar sie thatsächlich in Ruhe
sind. Man kann dieses Tendieren der
Linie, das vielleicht gleichfalls nur eine
optische Täuschung ist, beispielsweise —
um ein Exempel aus dem Alltag zu
wählen — an Schienensträngen beob-
achten, die in unendlicher Curve durch
die Felder gleiten und in endloser Melodie
sich zu krümmen und zu wachsen scheinen.
Selbst die nüchterne Geometrie, die doch
von derlei Spielen nichts wissen kann,
spricht von Punkten, die sich im Raume
fortbewegen und also Linien werden, von
Linien, die sich im Raume fortbewegen
und Flächen werden, von Flächen, die sich
im Raume fortbewegen und Körper
werden. Punkte, Linien, Flächen, von
Künstlerhand aufgefangen, wandern durch
unser Auge und rütteln an unseren
Sinnen. Dazu kommt die Erfahrung, dass
selbst jeder einfache Farbenstrahl in
der Opticusfaser, die er trifft, ein Farben-
gemisch auslöst, also die Unruhe in
uns
noch steigert. Punkte, Linien, Flächen
brechen sich in unserer Seele und bestehen
nur insofern, als sie Verbindungen mit
uns eingehen. Die Tendenz der Linie,
sich zur Fläche zu erweitern, die Ten-
denz der nicht umgrenzten Fläche, sich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 3, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0003.html)