Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 4

Die Kaiserin Farbe und Linie, I. (Khnopff, FernandLindner, Anton)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 4

Text

LINDNER: FARBE UND LINIE.

zur Linie zu verengern, und die Tendenz
der Linien, klingend ineinander zu
greifen
, gibt diesen Raumgrößen ihren
Lustwert. Wo feste Umrisse (Contouren,
Bleifassung) die Bewegung der Farben-
flächen oder -Flecken hindern, muss ein
Plus an Leuchtkraft der Nuancen ein
Bewegungssurrogat erfinden; so wird von
außen her eine Art matter Fluorescenz
gebildet, die sich dort, wo das Material
entgegenkommt — wie bei Glasbildern*
— von innen her potenziert.

Diese emotionelle Tendenz also, diese
Raum-Tendenz nach innen, die man viel-
leicht die psychische Expansionskraft
der Farbe und Linie nennen könnte, ist
eben gleichfalls eine »Raumwirkung«, eine
Raumwirkung im höchsten Sinne, — und
wahrlich, sie sagt unendlich mehr als jener
perspectivische Zirkel- und Reißbrett-Effect,
der uns beispielsweise in einen räumlich
vertieften Alkoven blicken lässt oder hinter
einen figürlichen Act etwa, dessen hori-
zontale Längsachse mit der Querachse der
Bildtafel sich zu kreuzen scheint. Schon
daraus ergibt sich, dass die äußere Raum-
wirkung der alten Ästhetik im besten Falle
nur selbstverständlich sein kann, oft aber
selbst bei Ölbildern ohne künstlerischen
Nachtheil fehlen darf.

Alle Schulbegriffe hinken, die neuen
wie die alten. Die Scheidewände aller
Schubfächer wetzen sich ab und greifen
ineinander. Ewige eherne Gesetze aber,
nach denen die hohe Kunst ihres Daseins
Kreise vollendet, gibt es insofern, als diese
Gesetze in unbewusster Verlebendigung
und organischer Transformation seit
Menschengedenken in uns wach geblieben.
Sie bleiben im Grunde die nämlichen, ver-
änderlich sind nur wir. Jegliche Zeit, sofern
sie das interimistisch abschließende Resultat
vorausgegangener Gährungsstadien ist, sieht
sich vor neue Sinne gestellt. Die optische,
die akustische und dann im allgemeinen
die psychische Apperceptionskraft variiert
fast von Jahrzehnt zu Jahrzehnt; wir ver-
feinern, vergröbern, verfeinern uns in
ewigem Wechsel, der unser Gefühls- und
Anschauungs-Leben umprägt mit leisen
Hämmerchen, bis wir in der Betrachtung

aller Künste — was heute fast schon Er-
eignis ist — ein »Spiel von jedem Hauch
der Luft« werden und schließlich dem
Hauche nicht wehren können. Diese Ver-
änderlichkeit in uns gibt den Meistern die
Unsterblichkeit. Indem wir an ihnen, den
Allumfassenden (und welches organische
Kunstwerk wäre nicht allumfassend?) just
eben das schätzen müssen, was uns je-
weilig homogen ist, und für das Heterogene
blind werden, setzen wir fast wider unseren
Willen ihr Wirken fort und lassen es
nicht verenden.

Zu allen Zeiten war die Kunst wie
die Natur ein ewiges Fluctuieren; alle
Techniken der einen finden sich auch in
der anderen: die Schlagschatten-Zeichnung
der Bäume am Wegrand, die Flächen-
wirkung bewegter Wolken auf Himmels-
grund, die Raumperspective der Dinge im
Wasserspiegel. Decorativ aber in unserem
Sinne, von innen her bewegt wie die Natur,
muss alles Bildwerk sein, sofern es uns
nicht neuerdings den Geschmack bar-
barisieren und die eben erst aufgeblühte
Empfänglichkeit trüben soll. Im übrigen
aber ist die »decorative« Wirkung der
bildenden Künste durchaus nicht von der
»geistigen« Wirkung zu trennen, zu der
die Kunst — wie es weiters auch in dem
Kataloge der »Secession« heißt — erst
durch den Ausdruck menschlicher Em-
pfindungen, Stimmungen oder Gedanken
zu gelangen pflegt. Als ob »decorativ«
und »geistig« (wenn man das schlecht
gewählte Wort schon dulden will) conträre
oder auch nur disparate Begriffe wären.
Wie ließe sich das decorative Element
in unserem Sinne von jener Geistigkeit,
besser: Verseeltheit scheiden, die ja aus
dem Motorischen, Fluctuierenden, Ewig-
Wechselnden, aus der Spiral- und Centri-
fugal-Tendenz seiner Theilchen erwächst!
Wie ließe sich eine andere Geistigkeit,
etwa eine von außen hineingetragene,
denken, da es doch im Bereiche der
bildenden Künste nun endlich feststehen
sollte, dass der malerische Stimmungs-
gedanke oder der Stimmungsgedanke der
Linie (andere Gedanken gibt es im Be-
reiche der Malerei und Zeichnung nicht!)

* Man vergleiche das Mosaikfenster Adolf Böhms (»Secession«, Nr. 171), der den
placatal-decorativen Stil in die Glasmalerei hinüberleitet und landschaftliche Impressionen
affichenmäßig aus bunten Scherben zusammenfügt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 4, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0004.html)