Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 5

Die Kaiserin Farbe und Linie, I. (Khnopff, FernandLindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 5

Text

LINDNER: FARBE UND LINIE.

nur eine Schwingungsform der
Farbe, eine Evolutionsform der
Linie ist, deren Atome er füllt, wie
der Allgeist die Materie. Und wie ließen
sich heute überhaupt noch malerische
oder zeichnerische Eindrücke denken, die
nicht aus dem Biologischen und Bio-
dynamischen der Farbe oder aus dem
Physiologischen der Linienwirkungen zu
erklären wären? Das aber, was man »bild-
hafte« Wirkung nennt, gibt es heute
nicht mehr, weil das, was ehedem bild-
haft schien, heute nur Träger coloristischer
oder linearer Werte sein kann. Aus diesem
Grunde ist auch heute (Böcklin!), wie ehe-
dem bei den Größten — man braucht
da nur an Rembrandt, Velasquez,
Tizian, an Dürer oder Cranach zu
denken —, die Scheidung zwischen bild-
hafter und decorativer Wirkung durch-
aus verfehlt; sie entspringt einem
literarischen Gedanken, der über-
wunden sein sollte, da doch die Kunst
nur so zu nehmen ist, wie sie sich aus
instinctiven, organischen Nöthen, nicht
aber aus intellectuellen Zurechtlegungen
gebildet hat.

Unsere gesammte Kunst, dort, wo sie
sich modern und zeitgemäß geberdet, stützt
sich eben auch heute noch viel zu sehr
auf Literatur und Ästheticistik, zum Theil
gar auf Journalistik. Dies mag nebenbei
auch daher kommen, dass heute fast jeder
über Kunst schreibt, dem sie irgend ein-
mal über den Weg gelaufen, während
doch andererseits kein Individuum einen
Stiefel fertigt, das nicht durch jahrelange
Mühsal das innigste Verhältnis zum
Organismus »Stiefel« gefunden hat.

So wird jetzt — dies lehrt auch die letzte
»Secession« — selbst von hochstehenden
Künstlern nachgerade kein Bild gemacht,
dessen artistische Koketterie in Stimmung,
Technik oder Motiv uns nicht mit Auf-
dringlichkeit verrathen würde, dass der
belesene Verfertiger zu einem theoretischen
Experiment mit nachtastendem Werkzeug
Stellung genommen. Und dieses bewusste
Gehaben manueller Fixigkeit, das jedem
Farben- und Linienphänomen gleichsam

ein Stirnlöckchen zwischen die Schläfen
bindet, ist nicht in letztem Grunde auf
jene wortreichen Kunstschwätzer und
Zwischenträger zurückzuführen, die uns
seit Jahr und Tag die Instincte untergraben,
indem sie popularisatorisch (zu deutsch:
verpöbelnd) von neuen Wundern sprechen,
mit Schlag- und Stichwörtern Fangball
spielen, insbesondere aber durch den Im-
port abstruser Schnörkelculturen und falsch
verstandener Devisen allmählich von der
Einfalt jener großen Meister ablenken, die
schon vor Jahrhunderten zeitgemäß genug
waren, den ewigen Form- und Farben-
Problemen der sichtbarlichen Künste durch
die intuitive Gewalt ihres divinatorischen
Unbewusstseins mit souveränem Wage-
muth auf den Grund zu kommen.

Und nun noch eine Frage: Lässt sich
die suggestive Macht der Farbe oder
Linie nur durch jenes geheimnisvolle
Phänomen erklären, das unmerklich in
unseren Sinnen entspringt, unmerklich
sich der Farbe oder Linie mittheilt und
dann unmerklich wieder, doch stetig po-
tenziert, auf unsere Seele zurückwirkt
und ihre Schwingungen beherrscht? Durch
jenes psychische Phänomen also, das ich
— in seiner Projection auf das Object —
als eine emotionelle Tendenz der
Farbe und Linie zu deuten suchte? Oder
sollte hier nebenher auch ein associa-
tiver Factor mitspielen, der neben jenem
(wesentlich ästhetischen) Wirkungs-Element
ein (im höchsten Sinne stoffliches oder
ethisches) Erinnerungs-Element anschlägt?
Selbst ein so unvergleichlicher Aristo-
krat der Farbe, wie es George
Sauter (London) ist,* scheint den Zauber
seiner malerischen Zusammenklänge, das
Rhythmenspiel der sich selbst überlassenen,
ungebundenen Farbe nur associativ begreifen
zu können; so vermag er sich über ihre
malerisch-essentielle Wirkung nicht anders
Rechenschaft zu geben als durch Sta-
bilierung von Bildtiteln, die auf Analoga
in der Außenwelt zurückführen und den
optischen Eindruck seiner coloristischen
Beziehungen durch akustische Reminis-
cenzen erläutern möchten.** Auch ihm,

* Die sechs kleinen Bilder dieses großen Künstlers hängen, ziemlich versteckt und
unberücksichtigt, in einer Schmalnische des Secessionsgebäudes, an der Rückseite des Böhm’schen
Glasbildes (Nr. 231—236).

** Man vergleiche seine Pastelle: »Rauschende Wasser« (Nr. 235), »Wellen« (Nr. 233).

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 5, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0005.html)