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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 204

Text

John Ruskins Leben und Lebens-
werk
. Von Samuel Sänger. Seit
den letzten Jahren gewinnen die Ideen
Ruskins, die in England schon seit drei
Jahrzehnten populär sind, auch hier
immer größere Verbreitung, so dass es
möglich werden konnte, einen Theil der
großen Anzahl Ruskin’scher Schriften (in
der dem archaistischen Charakter des
Originals nahekommenden Übersetzung
von Feis) in Deutschland herauszugeben.
Es ist nicht leicht, das ziemlich krause
Dickicht der Ruskin’schen Kunst- und Lebens-
Anschauung in rein disponiertem Aufbau
klarzustellen. Natur-Erforschung, Archi-
tektur-Studien, Technik der Malerei, Geo-
logie, politische Ökonomie, Gesellschafts-
kritik, Culturgeschichte, Technologie, ver-
bunden durch die Centralkraft der Rus-
kin’schen Mystik. Der Autor erleichtert
das Eindringen in diese Ideenwelt, indem
er die beiden Hauptpunkte dieser Polemik
gegen die heutige Civilisation: Kunst-
und Gesellschafts-Reform, ausein-
anderhält; er hebt hier »Sesame and
Lilies
«, »Fors Clavigera« und »Unto
this Last
« hervor. Besonders verdient die
Darstellung der gesellschafts-reformato-
rischen Ideen Anerkennung. Die national-
ökonomische Wissenschaft steht noch nicht
auf jener Höhe, die sie heute erreichen könnte.
Das Überhandnehmen eines pseudo-poli-
tischen Denkens, der Mangel an Distanzen
und die Verschiebung der ursprünglichen
Discussions-Objecte verschuldet, dass die
»Gesellschafts-Wissenschaft« den richtigen
Weg zur Lösung der wichtigsten Fragen
noch nicht gefunden hat. Ruskin hat von
allem Anfang an nicht beabsichtigt, zu den
officiellen politischen Ökonomen gezählt zu
werden. Vielmehr versuchte er, als social-
politisches Ideal die Objectivierung des
ästhetischen Geistes im Gesellschaftsleben
der Menschheit zu verkünden. b.

Vandevelde. Wir veröffentlichen
in diesem Hefte drei Kleidertypen* des
Künstlers, dessen Vortrag vor kurzem hier
erörtert wurde. »Als die volkstümlichen
Überlieferungen untergegangen waren« —
schreibt Frau Maria Vandevelde — »und
als man die Costume, welche die großen
Epochen der Geschichte begleiteten, ver-
gessen hatte, gerieth das Schicksal des
Kleides in die gewandten und gefährlichen
Hände der Schneider und Putzmacherinnen.
Die Gesichtspunkte des Geschäftes er-
sannen für jede Saison neue Änderungen
der Mode und zwangen Frauen und
Männern ihre Gesetze auf. Nach und nach
verlernten sie jede Rücksicht auf die Kunst
und auf die Moral der Schönheit. Denn
die Mode ist die große Verirrte, die Schul-
dige an alledem, was das Jahrhundert an
Hässlichem aufgespeichert hat. Alle ihre
Schöpfungen tragen unfehlbar die Merk-
male der Laune und des Zufalls. Das Beste,
was sie geben konnte, war allenfalls Sache
des »guten Geschmacks«, des »guten Tons«
oder des »Chic«. Bei der Moral unserer
Zeit und dem Stande unserer Kunst konnte
es auch kaum anders sein!« Es ist be-
zeichnend, dass hier der ethische Ursprung
dieser Reform betont wird; diese entspringt
in der That unmittelbar den Central-Ten-
denzen der heutigen Umwälzung. Es ist
darum sehr begreiflich, dass die hiesige
Presse sie angriff, als Einschränkung des
Rechtes auf persönliche Geschmacklosig-
keit. In der Abstraction und Ausschließung
des Decorativen liegt der Sinn dieser Be-
wegung, die im Gegensatze zu der heutigen
die Körperformen outrierend hervorheben-
den Kleidung (Taille) durch stilisierende
Vereinfachung und die tektonische Linien-
führung das Körperliche zurücktreten lassen
will: das ist offenbar der ursprüngliche
aber in Vergessenheit gerathene Sinn jeder
Bekleidung überhaupt.

* Aus der »Allgemeinen Ausstellung für das Bekleidungswesen« (Crefeld, 1900); heraus-
gegeben bei Friedrich Wolfrum, Düsseldorf.


Verantwortl. Redacteur: R. Dworschak. — K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortl. A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 204, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-09_n0204.html)