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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 205

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WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

15. MAI 1901

V. JAHRGANG, NR. 10


DIALOG ÜBER ESOTERISCHEN BUDDHISMUS.
Von CARL BLEIBTREU (Wien).

Der Unerleuchtete: Ich erkläre
von vorneherein, dass ich den Buddhis-
mus in Grund und Boden hasse und ver-
achte. Was die Karma-Lehre betrifft, so ist
sie von allen Phantasiemythen die albernste.
Christus — nach Buddha — hat dies
auch schon erkannt. Denn er stellt den
Zusammenhang von Schuld und Sühne,
Verschulden und Leiden als durchgängige
Norm in Abrede. Die betreffenden Stellen
finden Sie: Lukas XIII, 1—5, Johannes
IX, 1—3. »Karma« — seelenwandernde
Wiedergeburt als Vergeltung erschien dem
Religionsstifter als ein Aberglaube.

Der Erleuchtete: Wenn es ihnen
so passt, dient also auch Christus den
Materialisten als Eideshelfer! Doch begreife
ich vollkommen, dass der philosophische
Materialismus, nachdem er alle anderen
Religionen mit verächtlichem Mitleid ab-
that, sich mit wahrer Wolfswuth wider
den Buddhismus wendet, dem er mit
seiner üblichen wohlfeilen Logik nicht
beikommen kann. Übrigens hat Christus,
richtig gelesen, sich keineswegs so deutlich
geäußert, wie Sie behaupten. Er hat
vielmehr nur den abscheulichen — von
späteren Christen neu genährten — Wahn
verworfen, als ob materielles Unglück als

prompte »Strafe« für irgendeine »Sünde«
des Individuums in diesem Leben auf-
gefasst werden müsste, eine dem Egois-
mus der Welt recht angenehme Schluss-
folgerung, um sich so die Unglücklichen
zugleich als die Schlechten vom Halse
halten zu dürfen. Diese schändliche
Missdeutung ist heute noch im Volke ver-
breitet. Wenn also Christus versichert, der
Blindgeborene habe selbst nichts ver-
schuldet, noch seine Eltern, sondern dies
Phänomen trete ein, »damit die Werke
offenbar würden«, so lässt auch dies die
Deutung offen, dass er mit diesen Werken
der Natur, die sich offenbaren, auf das
Karma-Geheimnis hindeuten wollte. Der
Parabel von den Arbeitern, die ver-
schiedenen
Lohn empfangen, und von den
Knechten, die verschiedene Pfunde
zum Wuchern erhalten, lässt sich leicht
das Karma unterschieben, und endlich
mag auch in der »Auferstehung des
Fleisches« eine deutliche Anspielung ent-
halten sein. Da jedoch die Evangelien
wohl eine geniale Erkenntnisdichtung der
Seelenkräfte und blitzartig intuitives Be-
leuchten occulter Materien, nicht aber
ein zusammenhängendes, philosophisches
System, wie der uralte Brahminismus und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 205, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0205.html)