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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 189

Text

WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

1. MAI 1901

V. JAHRGANG, NR. 9


GUSTAV TH. FECHNER.
(1801.)

r. Fechners besondere Bedeutung
scheint nicht sowohl in den positiven
Ergebnissen seiner Forschung, als in
der Art seiner Mittel zu beruhen; er
fand mehr, als er gesucht hatte; das
Bewusstsein im Makrokosmos suchend,
gelangte er zu einer allgemein giltigen
Schlussweise vom Bewusstseinsträger
auf das Bewusstsein, dem Analogie-
schluss, und zu dessen Begründung
in seinem psycho-physischen System.
Dieses Gesetz von der psycho-physischen
Coordination, die allgemeine Zuord-
nung der Empfindung zu einer äqui-
valenten (körperlichen) Veränderung des
Empfindungsträgers aussprechend, hat
nicht nur die Entwickelung der Psy-
chologie, sondern auch die der Er-
kenntnistheorie in andere Bahnen ge-
lenkt. Unter der Form der lückenlosen
Continuität als des formalen Ausdruckes
für den Parallelismus erscheinend, stützt
es die früher zweifelhafte Schelling-
sche Identitäts-Ansicht. Es bildet einen
Schlusstein in der Entwicklungskette
der fortgesetzten Befreiungsversuche
des Geistes von der Causalitätskate-

gorie, das ist der Geschichte des Geistes
überhaupt. Dieser Gegensatz zwischen
den Meisten, welche ausschließlich zeit-
lich durch die Formen der Motivation,
und Denjenigen, welche zeitlos, paral-
lelistisch empfinden, ist die Axe aller
Culturgeschichte. Der Experimental-
Ausdruck dieses Erkennens der Be-
ziehungen zwischen den Polen der Em-
pfindung hat die Grundlage der heutigen
Entwicklung gelegt; diese Erkenntnis-
möglichkeit durch die Analogie bildet
eben das Wesen der »modernen« Denk-
art, was hier zur Aufklärung denen
gegenüber angemerkt sei, welche diesen
Ausdruck, für und wider, fortgesetzt
missverstehen und missbrauchen.

Obwohl den indischen Quellen fremd,
hat Fechner einige ihrer Sätze unge-
fähr gleichartig nacherdacht, z. B. den
»Thatenleib« (Karma); als Nachfolger
Swedenborgs erscheint er in seiner
»Anatomie der Engel«, welche die
radiale Tendenz der Natur auf spiri-
tuelleren Sphären findet. Er ist endlich
der Letzte in jener Reihe transcenden-
taler Physiker, von Kepler über den

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 189, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-09_n0189.html)