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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 190

Text

MALLARMÉ: AUF DEM JAHRMARKT.

Metamathematiker Gauß und Weber bis
zum Astrophysiker Zöllner. Alle diese
giengen von der Grundthatsache des Be-
wusstseins aus, welches, entelechistisch,
aus seiner anderen Anschauungsform,
der Materie, wieder erwächst. Der Be-
griff des Zufälligen verschwindet; alles
Erscheinende ist schon bewusste
Action; Form und Inhalt nur durch die
Schwingungszahl (Tonhöhe) differen-
zierte Äußerungen ein und derselben
Centralkraft. Man gelangt hier endlich
zu einem Standpunkt, von dem aus alles
auf der phänomenalen Sphäre mecha-

nistisch Erklärbare als ästhetische Ab-
sicht erscheint; hierher gehört u. a. die
musikalische Erfassung astronomischer
Verhältnisse. Das Princip führt anderer-
seits zu jener geometrischen Darstell-
barkeit geistiger Vorgänge, welche wir
als die Grundlage einer neuen Ästhetik
gefunden haben. Sie gibt die Voraus-
setzungen einer künftigen objectiven
und wissenschaftlichen Kunstkritik —
die heute übliche ist das Gegentheil
hievon — indem sie das Thema als
den Ursprung und Zweck des Materials
begreift.

AUF DEM JAHRMARKT.
Von STEPHAN MALLARMÉ.

Tiefe Stille! Es steht fest, dass die
Frau an meiner Seite, träumerisch hin-
gestreckt, leise eingewiegt vom Schau-
keln des Wagens, dessen Räder ge-
dämpft über die Blumen am Wege
gleiten, mich der Anstrengung enthebt,
ein Wort an sie zu richten, ihr laut
zu huldigen ob ihrer herausfordernden
Toilette, durch die sie sich beinahe dem
Manne darbietet, dem sie das Ende
dieses Nachmittags gewährt; als ein-
ziges Gegengewicht gegen diese unver-
muthete Annäherung liegt ein gewisser
Ausdruck der Ferne auf ihren Zügen,
deren geistreiches Lächeln in einem
Grübchen endet. Aber das Schicksal
willigte nicht ein, denn außerhalb
der eleganten Viertel, denen man
den funkelnden Wagen befriedigt ent-
rollen sah, schlug unerbittlich, mitten
in jene stumme Seligkeit einer Dämmer-
stunde, außerhalb der Stadtgrenze ein
dröhnendes Gewitter von Lachsalven;
von allen Seiten zugleich erklang sinn-
loses, schrilles Johlen, ein triumphierender
Kesselpauken-Spectakel; kurz, eine
wahre Katzenmusik für das Ohr eines

Jeden, der, abseits stehend, zu seinen
Gedanken flüchtet und vor dem Getriebe
des Lebens zurückschreckt.

»Der Jahrmarkt von H...« und
mit heller, fröhlicher Stimme nannte
das schöne Kind, das mit mir fuhr,
mir Zerstreuten den Namen irgend-
eines Vorortes; ich gehorchte und ließ
halten.

Ohne für dieses unsanfte Erweckt-
werden etwas anderes einzutauschen,
als das lebhafte Verlangen nach einer
einleuchtenden, logischen Erklärung,
wieso jene bei einer Illumination ent-
zündeten einzelnen Lichter sich all-
mählich zu Gewinden und Emblemen
fügen, beschloss ich, da ich nun einmal
um die Einsamkeit betrogen war, mich
sogar unternehmend in jenes hassens-
werte und absichtlich entfesselte tolle
Treiben zu stürzen, dem ich früher in
so anmuthiger Gesellschaft entflohen
war; bereitwillig und ohne die geringste
Überraschung über die Veränderung
unseres Programms zu bekunden, legt
sie unbefangen ihren Arm in den
meinen und wir durchwandern gemein-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 190, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-09_n0190.html)