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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 191

Text

MALLARMÉ: AUF DEM JAHRMARKT.

sam neugierigen Blickes die Reihe der
Schaubuden, welche die Jahrmärkte in
zwei Lager des gleichen Rummels
theilt und der Menge gestattet, für
eine Weile das ganze Weltall darein
einzuschließen.

Durch irgendeine Ungeheuerlich-
keit zeitweilig heiter unserem lässigen
Schlendern entrissen und abgelenkt
vom Anblick der Dämmerung auf
ihrem seltsamen, purpurnen Hinter-
grund, fesselte uns plötzlich, nicht
minder als die feuerbrünstige Wolke,
ein menschlich ergreifendes Bild: des
buntbemalten Rahmens und der grellen
Aufschrift bar, eine augenscheinlich
leere Schaubude.

Wem auch dieser aufgeschnürte
Ballen gehören mochte, dessen Inhalt
hier — wie zu allen Zeiten, in allen
Tempeln die Schleier — dazu dienen
sollte, das Mysterium herzustellen, jeden-
falls hatte seinem Besitzer, ehe er
ihn gleich einem Banner verheißener
Freuden entfaltete, keineswegs die
Hoffnung vorgeschwebt, hier besondere
Merkwürdigkeiten zu zeigen (es wäre
denn die Aussichtslosigkeit seines
hungrigen Elends!). Und dennoch, be-
stochen von dem Anschein brüderlicher
Liebe, der im Jammer des täglichen
Lebens sonst fehlt, und bedenkend, dass
ein grüner Wiesenplan, sowie das
Zauberwort »Jahrmarkt« ertönt, von
zahllosen Füßen betrippelt wird und
die Menge in diesem einzigsten Fall
von der sonderbaren Schwäche be-
fallen wird, die sonst so schwere Hand
zu öffnen, den Groschen aus der Tasche
zu holen und ihn bloß zum Zwecke
des Vergnügens auszugeben, hatte er,
obgleich es ihm an allem außer dem
Wunsche gebrach, beschlossen, auch
zu den Auserwählten zu gehören, irgend
etwas, gleichviel was, zu verkaufen
oder auszustellen, und war der Lockung
des wunderthätigen Ortes gefolgt. Oder
vielleicht hatte er ganz nüchtern auf
die eigene Muskelkraft gezählt, der
Bettler, oder die gelehrte Ratte, die
das Publicum fesseln sollte, war im
letzten Augenblick ausgeblieben, wie
das ja öfters im menschlichen Leben
zu geschehen pflegt.

»Schlagt die Pauke!« befahl mit
fürstlicher Hoheit Madame ... — Du
allein weißt, wer — und wies auf eine
alte Trommel, von der sich ein Greis
erhob, die Arme abwehrend ausgestreckt,
wie um auszudrücken, dass es nutzlos
sei, sich seiner Bude zu nähern, und
den vielleicht gerade die Vertrautheit
mit diesem Instrument des Lärms und
der Anlockung zu seinem zwecklosen
Versuche verführt. Dann, damit man
hier sogleich aufs beste das Räthsel
bewundern könne, funkelnd durch das
Schmuckstück, das ihr Kleid am Halse
verschloss, wie die fehlenden Worte
ihr die Kehle verschlossen, sah ich das
schöne Weltkind zu meiner Überraschung
plötzlich umringt, stumm inmitten einer
Menge, welche die lauten Weckrufe
der Werbetrommel herangelockt, deren
Ras und Flas meine mir selbst zuerst
unklare, beständige Aufforderung: »Nur
hereinspaziert, meine Herrschaften! Es
kostet bloß einen Sou; wer mit der
Aufführung nicht zufrieden ist, bekommt
sein Geld zurück!« übertönte.

Da der zerlumpte Greis die ver-
witterten, leeren Hände dankend faltete,
so griff ich nach der Fahne, schwang
sie als weithin sichtbares Zeichen und
setzte die Mütze auf, entschlossen, der
Menge Trotz zu bieten, im Bewusstsein
dessen, was der Einfall einer Genossin
unserer Abendfreuden aus diesem nüch-
ternen Raum zu machen gewusst.

Bis zu den Knien ragte sie, auf
einem Tische stehend, über die hunderte
von Köpfen heraus. So hell, wie der
elektrische Strahl, der sie, von ander-
wärts herüberdringend, beleuchtete,
zuckt in mir die Erkenntnis auf, dass,
obwohl sie sonst nichts bot, weder
tanzte, noch sang, durch ihren bloßen
Anblick, dessen Schönheit die Mode,
ein phantastischer Einfall und die Laune
des Himmels erhöhte, die Menge reich-
lich für das Almosen entschädige, das
sie zu Gunsten jenes Unbekannten von
ihr erbeten; zugleich erkenne ich meine
Aufgabe bei dieser heiklen Schaustellung
und dass man der Enttäuschung dieser
Schaulustigen nur mit Hilfe einer an-
erkannten Macht, wie es eine Metapher
ist, wirksam begegnen könne. Also

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 191, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-09_n0191.html)