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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 10

Text

10 TSCHECHOW.

Wanjka faltete den auf allen vier Seiten beschriebenen
Brief und legte denselben ins Couvert, das er gestern um
eine Kopeke gekauft hatte Er überlegte ein wenig,
tauchte die Feder ein und schrieb die Adresse:

Ins Dorf dem Grossväterchen.

Dann kratzte er sich, dachte nach und fügte hinzu:
»Constantin Makaritsch«. Zufrieden damit, dass man ihn beim
Schreiben nicht gestört hatte, setzte er die Mütze auf, und
ohne den Rock anzuziehen, lief er in blossem Hemd auf die
Strasse

Die Fleischhändler, die er gestern ausgefragt hatte,
sagten ihm, dass man die Briefe in den Postkasten wirft,
und dass sie von da ausgehoben und in Post-Dreigespanns
mit betrunkenen Janschtschicks und bimmelnden Glöcklein
über die ganze Erde herumgeführt werden. Wanjka lief bis
zum ersten Postkasten und schob den theueren Brief in die
Oeffnung

Von süssen Hoffnungen eingehüllt, schlief er eine Stunde
später einen tiefen Schlaf Er träumte vom Ofen. Auf
dem Ofen sitzt der Grossvater, lässt die nackten Füsse herab-
hängen und liest diesen Brief den Köchinnen vor Neben
dem Ofen aber geht Wjun herum und wedelt mit dem
Schweife

Moskau. Anton Tschechow.

Deutsch von Alex. Brauner.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 10, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0010.html)