Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 9
Text
mich eine vergoldete Nuss und versteck’s in das grüne
Kofferchen. Bitte das Fräulein Olga Ignatjewna darum, sag’,
es ist für Wanjka.«
Wanjka seufzte convulsivisch und blickte wiederum zum
Fenster. Er erinnerte sich, dass den herrschaftlichen Christ-
baum stets der Grossvater aus dem Wald holen musste, der
den Enkel immer mitnahm. Es war eine lustige Zeit! Der
Grossvater stöhnte, und der Frost stöhnte, und Wanjka stöhnte
mit. Bevor der Grossvater den Baum fällte, pflegte er eine
Pfeife auszurauchen, lange Tabak zu schnupfen und den vor
Kälte zitternden Wanjka zu hänseln Die jungen, in Reif
gehüllten Tannen, stehen unbeweglich und warten; welche
von ihnen soll sterben? Plötzlich rennt durch den Wald
pfeilgeschwind ein Hase Der Grossvater kann nicht
umhin, zu rufen:
»Halt, halt ha—alt! O du kurzgeschwänzter Teufel!«
Die gefällte Tanne schleppte der Grossvater ins herr-
schaftliche Haus, und dort ward sie aufgeputzt Am
eifrigsten war das Fräulein Olga Ignatjewna, Wanjkas Lieb-
ling. Als Wanjkas Mutter Palageja noch lebte und bei den
Herrschaften als Stubenmädchen diente, fütterte Olga Ignat-
jewna den Wanjka mit Zuckerwerk und hat ihn aus Lang-
weile Lesen, Schreiben und bis Hundert zählen gelehrt und
sogar Quadrille tanzen. Nach Palagejas Tod jedoch wurde
das Waisenkind Wanjka in die Gemeindeküche zum Gross-
vater geschickt, und aus der Küche nach Moskau zum
Schuster Aljachin
»Komme, liebes Grossväterchen,« schrieb Wanjka weiter,
»um Christi Willen bitte ich Dich, nimm mich von da weg.
Erbarme Dich meiner, des unglücklichen Waisenkindes,
sonst schlagen sie mich alle, und essen will ich schrecklich,
und bange ist mir so, dass ich nicht sagen kann, und muss
weinen. Vor Kurzem aber hat mich der Meister mit dem
Leisten auf den Kopf geschlagen, so dass ich umgefallen
bin und schwer zu sich kam. Ein qualvolles Leben ist das
meinige, ärger als das eines Hundes Und ich grüsse
noch die Aljona, den trinkenden Jäger und den Kutscher, meine
Harmonika aber gib Niemandem. Ich verbleibe Dein Enkel
Iwan Schukow, liebes Grossväterchen, komme doch bald «
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 9, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0009.html)