Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 448
Text
Von Gabriele d’Annunzio (Rom).
Deutsch von Eugen Guglia.
»Eine holde Mischung von Schatten
und Licht liegt auf den Gesichtern
derer, die an den Thüren von jenen
Wohnungen sitzen, welche dunkel
sind.«
Leonardo da Vinci.
I.Riesige Pinien erhoben sich mit ihren geraden zweiglosen Stämmen
wie Mastbäume von grossen Schiffen in gleichen Zwischenräumen längs
der Mauer und beschatteten den Garten mit ihrem dichten, hohen
Blätterschirm. Und zwischen Stamm und Stamm wie zwischen Säulen
waren Nischen in die Felswand gehöhlt, darin standen nackte Stein-
bilder, erstarrte Visionen der Vergangenheit. Und wiederum in gleichen
Abständen von einander rauschten die sieben Brunnen des Gartens;
am Rande ihrer runden Becken sassen Marmorgötter, stützten sich auf
die Urnen, aus denen das Wasser floss, und schauten sich in dessen
Spiegel. Ein jeder von den Brunnen war von einem Tempeldach über-
deckt, auf dessen Fries eine Inschrift eingegraben war. Das Grün der
hohen Myrte überzog das Alles, unterbrochen nur von den weissen,
stillsinnenden Gestalten. Und das feuchte Erdreich war ganz bedeckt
von Gras und Moos wie von einem Teppich, der unsere Schritte lautlos
machte und die Lüste des Geheimnisses erhöhte.
»Könnt ihr diese Verse hier lesen?« sagte Violante und deutete
auf eine der verwitterten Inschriften über den Brunnen. »Ich wusste
einmal, was sie sagen wollen «
Praecipitate moras, volucres cingatis ut horas.
Nectite formosas, mollia serta, rosas.
»Eilt euch, windet zu Kränzen die holden Rosen, bekränzt mit
ihnen die flüchtigen Stunden.«
Es war, durch den Reim gemildert, die uralte Ermahnung, die
durch Jahrhunderte die Menschen zu den Freuden des kurzen Lebens
aufgerufen, die auf den Lippen der Liebenden so viel Küsse entflammt
und bei fröhlichem Mahl so viele Becher gefüllt hat. Es war die alte
wollüstige Melodie, von einem Mönch in mittelalterlicher Zelle variirt,
*) Aus »Le Vergini della Rocce«, G. d’Annunzio’s neuestem, deutsch noch
nicht erschienenem Roman (Mailand 1896), auf den wir durch dieses prachtvolle
Bruchstück unsere Leser ganz besonders aufmerksam machen möchten.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 448, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0448.html)