Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 449

Die sieben Brunnen (Annunzio, Gabriele D’)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 449

Text

DIE SIEBEN BRUNNEN. 449

vielleicht in derselben Stunde, da er Wachs zu Votivbildern formte
oder Linnen zu einem Altartuch schnitt.

Fons lucet, plaude, eloquitur fons lumine: gaude,
Fons sonat, adclama, murmure dicit: ama.

»Der Brunnen glänzt und rauscht; mit seinem Glänzen sagt er
dir: geniesse! Mit seinem Rauschen sagt er dir: liebe!«

Ein seltsamer Zauber strömte von den verwitterten Worten auf
dem zerbröckelnden Gestein, die das Murmeln des Wassers unaufhör-
lich begleitete, als wollte es sie deuten. Ich fühlte aus ihrem fernen
Klang etwas von jener Schwermuth, die der Wollust Anmuth gibt, sie
tiefer macht, indem sie sie trübt. Und auch diese jungen Gottheiten,
die am Rand der stillen Becken ihre nackten Glieder dehnten und in
der grünen Fluth beschauten, sie waren so voll Schwermuth

Flete hic potantes, nimis est aqua dulcis, amantes,
Salsus, ut apta veham, temperet humor eam.

»Weinet hier, o Liebende, die ihr kommt, euch zu tränken; allzu
süss ist dieses Wasser, mischet es mit dem Salz eurer Thränen

So lehrt die süsse Quelle, die den Thränen ihre Bitterniss neidet,
die Freudvollen jene feine Kunst, den Becher des Glücks mit Schmerzen
zu versetzen: »Flicht in deinen Kranz von rothen Rosen hie und da
die dunkle Blüthe der Niesswurz ein, damit die geschmückte Stirn von
Zeit zu Zeit gedankenvoll sich neigt «

Es schien, als wenn in diesem Garten der Liebe die Wollust
von Brunnen zu Brunnen stufenwärts emporgeläutert würde zu höherer
Weisheit, höherer Leidenschaft. Die zitternden Spiegel der Fluthen
luden die Liebenden ein, die traumschweren Häupter zu senken und
die eigenen Bilder zu beschauen, so lang zu schauen, bis sie in diesem
nichts mehr sähen als die Schatten fremder Wesen, die aus einer un-
nahbaren Welt leise ans Licht emporgetaucht, und so erkannten, was
ihrem eigenen Leben Geisterhaftes und Fernes ist.

Oscula jucunda ut duplicentur imagine in unda
Vultus hic vero cernite fonte mero.

»Neiget euch, euch zu bespiegeln, damit ihr eure Küsse ve-
doppelt schauet in der klaren Fluth.«

Ja, dieses Neigen enthüllt ein tief verborgenes Geheimniss. Die
beiden Liebenden, die ihre Umarmung im Spiegel sehen, bedeuten,
sich selber unbewusst, die mystische Gewalt der Wollust, die den un-
bekannten Menschen, den wir in uns tragen, herauslockt aus den
Tiefen unserer Seele und ihn erscheinen lässt als ein fernes, fremdes Geister-
bild. Habt ihr von jenen Wollüstigen nicht gehört, die sich vor hohen
Spiegeln umfangen und ihre Liebkosungen von Gestalten wiederholt
sehen, die ihnen ähnlich und in ihrem übernatürlichen Schweigen doch
so unendlich anders erscheinen? Aus dem Dunkel jenes Gefühles
suchen sie diese Lust und diese Schrecken; sie ahnen etwas von der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 449, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0449.html)