Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 447

Venedig (Rilke, René Maria)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 447

Text

VENEDIG. I.

Immer ist mir, dass die leisen
Gondeln durch Canäle reisen
Irgend jemand zum Empfang;
Denn das Warten dauert lang,
Und das Volk ist blass und krank,
Und die Kinder sind wie Waisen.

Lange harren die Paläste
Auf die Herren, auf die Gäste,
Und das Volk will Kronen sehn.
Auf dem Markusplatze stehn
Möcht’ ich oft und irgendwen
Fragen nach dem fernen Feste

II.

Ave weht von den Thürmen her,
Immer noch hörst du die Kirchen erzählen;
Doch die Paläste an stillen Canälen
Verrathen nichts mehr.

Und vorbei an der Traumesruh’
Ihrer schlafenden Stirnen schwanken
Leise Gondeln wie schwarze Gedanken
Dem Abend zu.

München. René Maria Rilke.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 447, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0447.html)