Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 441
Text
Wiener Rundschau.
1. MAI 1897.
WÖLFE.
Von Carl Erik Forsslund.
Autorisirte Uebertragung aus dem Schwedischen von Francis Maro.
In der Winternacht ist ein heulender Schneesturm über die Felsen
dahingezogen. Das Dunkel hat sich durch die Bäume gewälzt, undurch-
dringlich, erstickend, wie die Ströme am Grunde des Meeres. Schnee-
schwere Wolken rauschten über die Bergspitzen, und Seufzer quollen
aus dem Innern der Wälder und der Tiefe des Dunkels hervor.
Aber wie dann die Schneestürme gegen Morgen dahinsterben und
ein erster schwacher Lichtschein von den Felsenhöhen hinab ins Thal
gleitet, da kehren die Wölfe wieder in den Wald zurück von ihren
Streifzügen in bewohnten Gegenden.
Stille kommen sie, wie dunklere Schatten im Dunkel. Vielleicht
wurde der Hunger gestillt bis zur nächsten Nacht, vielleicht von
Müdigkeit betäubt. Stille stampfen sie über den Schnee; mit schlotterndem
Schweife und gesenktem Kopfe suchen sie wieder die verborgensten
Schlupfwinkel, das geheimste Dunkel des Waldes auf. Die Kinnladen
sind um die scharfen Zähne geschlossen, die Augen blicken stumpf
und gleichgiltig vor sich hin.
Es ist bleicher Mondschein in der Luft, der halbhelle Lichter
über die Stellen zwischen Dickicht und Stämmen streut. Eine stumme
Dämmerung ist es, die sich langsam emporhebt. Eine verheissungsvolle
Stille, so wie nach lärmenden Anstalten, bevor das Fest kommt, mit
Leben und funkelndem Lichte.
Aber wie die Träume sich am dichtesten zusammendrängen,
gerade bevor man erwacht, so schreiten die Wölfe in düsterer Ruhe
durch die Waldesdämmerung hin. Sie haben in dieser Nacht keine
Beute gefunden, alle lebenden Wesen suchten Schutz und Schirm vor
Kälte und Sturm. Sie möchten vor Hunger aufheulen, doch die Müdigkeit
schliesst ihren Rachen. Stille schreiten sie der Höhe zu.
Da ist einer, der den Kopf erhebt und die Nüstern weitet,
indess in die Augen ein Funke tritt und die Kienmuskeln sich an-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 441, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0441.html)