Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 442
Text
spannen. Sie bleiben stehen und sehen sich um mit erhobenen Schnauzen,
einer öffnet den Rachen, er leuchtet roth wie Blut gegen den mond-
blauen Schnee. Sie wittern zum Berge hinauf, die Zähne leuchten
scharf, weiss unter den grinsenden Lippen, und die Schweife wedeln.
Und mit lautlosen Schritten eilen sie aufwärts, wie Schatten in der
Dämmerung, Schatten der eilenden Wolken des Raumes. Mit weichen,
raschen Schritten, alle demselben unsichtbaren Ziele entgegen — — —
Im Schnee unter dem höchsten Gipfel der Sonnenspitze wandert
ein alter Mann mit trägen, irrenden Schritten. Er hat einen wirren,
grauen Bart und volle Lippen, die lüstern lächeln können, aber auch
bebend, wehmüthig, machtlos. Er hat buschige Augenbrauen und ein
Paar dunkle Augen — die haben einen seltsamen Blick, es liegt wie
ein Schleier darüber, aber sie glänzen unter dem Schleier und spiegeln
das wechselnde Licht, getreu und rasch. Auf dem Rücken trägt er
einen Beutel — es muss nicht viel darinnen sein, er baumelt mager
und schlottrig im Takte zu seinen Schritten. Und das ist kein Walzer-
takt; wie eine Kirchenglocke schlenkert er sachte hin und her. In der
einen Hand hält er einen langen Stock, den er bei jedem zweiten
Schritt zur Stütze in den Schnee bohrt. Aber unter dem anderen
Arme da hat er eine Violine, eine alte Violine mit nur drei Saiten.
Er trägt sie behutsam, er drückt sie fest zwischen Arm und Brust, und
die Hand greift sicher um den Hals der Fiedel.
Wer er ist, der Alte mit der Violine, das weiss jedes Kind in
der Gegend und jede Tanne des Felsens. Sein ganzes langes Leben
über hat er sich dort oben zwischen den Bergen umhergetrieben, er
hat der Aeltesten Väter gekannt, so wie er ihre Söhne kennt. Den
Spielnarr nennt ihn Jung und Alt.
Er hat seine Jahre vor der Welt getragen, so wie man Ringe an
den Fingern trägt. Aber nun fangen sie an, ihn zu drücken; in der
Einsamkeit beginnt er, sie wie Fesseln an Hand und Fuss zu spüren.
Mit mühsamen Schritten klimmt er den Berg hinauf, da, wo kaum noch
ein Baum wächst.
Er spricht zu sich selbst, indess er immer höher steigt in die
frische Felsenluft, die im Mondscheine zittert. Er spricht nie zu Anderen,
stets nur zu sich selbst, den Leuten unten in den Dörfern hat er nie
ein Wort gesagt, bloss durch die Geige hat er mit ihnen gesprochen.
Und während er jetzt im Schnee hinaufwatet, sagt er, dass nun der
Frühling naht, heute ein Sonntag wird. Es wird schön sein, von dort
oben zu sehen, wie die Frühlingsluft sich blau über die Thäler breitet.
Es wird herrlich sein, wieder im Grase zu liegen und in die Sonne zu
schauen und den Wind spielen zu hören. Zwar die Bauern werden sich
wohl wieder erzürnen: »Geh’ und trage Holz und thu’ fürs liebe Brot
das Wenige, was du kannst! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.«
Er aber lächelt; er denkt an vergangene Lenze. Dann bleibt er stehen,
um zu ruhen. Er sieht sich um, es ist stille über dem Walde, eine
blaue, kalte Stille, eine Monddämmerung, die sachte erbleicht, indess
die blauen Schatten über den Schnee dahinschmelzen, als würden sie
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 442, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0442.html)