Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 443

Wölfe (Forsslund, Carl Erik)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 443

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WÖLFE. 443

von einem weichen Pinsel weggelöscht. Ja, es ist nun bald Frühling,
die Sonne ist schon zeitlich Morgens auf, sagt er, und setzt sich
wieder in Gang. Als er nun die Spitze vor sich hat, spielt der Horizont
im Osten schon ins Röthliche, und die Mondscheibe hebt sich bleich-
weiss gegen das klare Blaugrün der höheren Luftschichten. Wieder
hält er inne, um Kraft zu den letzten Schritten zu sammeln und das
Auge an den Glanz der strahlenden Weiten zu gewöhnen.

Und wieder spricht er in Gedanken. Die Worte kommen dumpf,
wie von ferne aus dem Dunkel, sie sind undeutlich, als verlören sie
sich und gingen irre in dem struppigen Bart. Als sie sich dann frei-
machen und deutlicher werden, haben sie einen seltsam gebrochenen
Klang. »Haha, ja, ja, armer Narr, ja!« sagt er. »Was soll ich hier in den
Bergen — ist das für alte Beine was? Alter Narr, ja. Sie haben schon
Recht dort unten in den Bauernhöfen, du bist ein alter Narr, ja, das
bist du. Die liegen jetzt unten und träumen, die haben es warm und
schön in ihren Kammern. Gut, dass sie dich nicht hier im Schnee
sehen! Die würden dich schön auslachen! Kann man sich denken, kann
man sich das denken? Der glaubt, es ist der Frühling, der in seinem
Blute singt — alter Narr, als ob er nicht den Winter im Blute hätte,
für alle Zeit! Die würden sich lustig machen — stellt euch nur vor,
solche Einbildungen, die laue Luft sauge ihn zu sich hinauf in die
Höhen, die Sonne spiele Lockweisen vor seinen Augen, wo hat er nur
so was her, woher? Doch die Bauern würden sich auch erbosen —
ein Taugenichts ist er, faul wie ein Schwein ist er, Nachts, wenn ehr-
same Leute schlafen, da treibt er sich im Walde herum, doch bei Tage,
wenn Arbeitszeit ist, da liegt er im Grase und kann sich nicht rühren,
kann nur seine Fiedel streichen und Knecht und Magd zu Tanz und
Sündigkeit verlocken, und dafür will er Speis’ und Trank haben, nein,
zieh’ in den Wald, alter Narr, spiel’ dort den Thieren vor, da bekommst
du gleich Antwort«

In seine Gedanken ist Wind,— und Sturm in seine Worte gekommen,
da verstummt er plötzlich und blickt zu dem östlichen Felsen, und
er muss die Augen mit der Hand beschatten. Denn die Sonne ist auf-
gegangen, sie hebt sich von der blauen Luft wie ein nacktes Weib in
strahlendem Reize, und die rothen Wolken am Horizont, sie sind wie
ein Purpurmantel von Seide, der sich von ihren güldenen Gliedern
gelöst und zu ihren Füssen niedergesenkt hat.

Der Spielnarr schaut und schaut. Seine Augen trinken das Licht
in langen, geniessenden Zügen, er fühlt einen warmen Strom durch sein
Blut rieseln, wie im ersten Liebestaumel seiner Jugend, er richtet seinen
alten, gebeugten Leib empor und eilt den Gipfel hinan, hinauf zur
höchsten Spitze des Sonnenfelsens.

Der Sonnenfels blickt über schwindelnde Weiten aus, von allen
Spitzen im Umkreise ist er dem Himmel am nächsten. Der Sonnen-
fels, der sendet jedes Jahr den ersten Lenzwind hinab ins Thal, um
ihn zu sich hinaufzulocken — ihn, den Spielnarren. Und er gibt ihm
jedes Jahr alle Herrlichkeit seines Ausblicks und all seine sonnen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 443, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0443.html)