Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 444

Wölfe (Forsslund, Carl Erik)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 444

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444 FORSSLUND.

trunkene Luft, um seiner Sinne Durst zu löschen und seinen Gedanken
Nahrung zu geben, die den Winter über im Thale hungern

So sitzt er dort oben auf einem schneeverhüllten Stein, ein wol-
lüstiges Lächeln um die Lippen, zwei strahlende Sonnen in den weit
geöffneten Augen. Er spricht nicht, er denkt nicht, er hört und sieht
nur. Denn es schwebt ein lauer Hauch um den Felsen, er tanzt
spielend und irre um ihn, und er zupft an den Saiten der Geige, so
dass sie von selbst klingen und singen, als wären auch sie von der
Freude der Sonnenluft durchströmt.

Er bringt die Violine ans Ohr und lauscht. Da zieht ein leichter
Schatten über seine Stirne, wie ein Vöglein über den klaren Raum.
Es ist der Schatten eines Gedankens, und er verdunkelt einen Augen-
blick die Sonnen in den Augen. Er führt die Fiedel an die Brust, er
lässt den Bogen über die Saiten gleiten, sachte wie eine Liebkosung.
Es zuckt in den Mundwinkeln, es lebt in den Augen, und er spricht
mit einer Stimme, die eintönig und halblaut über den Accorden der
Geige schwebt. Er spricht Worte von wunderlicher Farbe, in wiegendem
Rhythmus; wenn die Leute im Thale sie hörten, sie würden sie nicht
verstehen, man würde verwundert fragen, woher er so was hat, woher
er die Worte nimmt, woher die Gedanken. Aber da ist Niemand, der
ihn hört, und ständen auch Menschen rings um ihn, er würde sie
nicht sehen. Denn es ist sein Innerstes, das er vor Augen hat. Er
misst sein Leben mit seiner Sehnsucht, und der Ausdruck wechselt in
seinem Blick.

»Mein Leben war lang,« sagt er. »Es ist zwischen den Bergen
dahingekrochen wie eine Larve in der Erde. Sie will wohl hinauf zur
Sonne, sie will wohl zwischen den Blumen fliegen. Aber sie kann nicht.
Sie hat keine Flügel. Sie kann nur sehnen und wünschen. Darum
lachen die anderen Larven sie aus.«

»Mein Leben ist ein Schlummer gewesen,« sagt er; »und die
Blicke werden dunkel, die Augenlider schliessen sich, die Saiten spielen
in Moll. »Ein Schlummer mit bösen Träumen, mit schwerem Alp. Ich
habe wunderliche Wolken über den Bergen gesehen, sie glichen Tönen,
sie leuchteten roth wie schöne Worte, sie zitterten wie singende
Stimmen. Ich wollte sie erreichen und festhalten, doch da zogen sie
fort, und ich schrie auf im Schlafe. Die Anderen, die nichts träumten,
die vielleicht nichts über den Bergen sahen, ihre Blicke und ihr Ge-
flüster stach mich mit Nadeln, so dass ich erwachte — —«

Er verstummt, und der Bogen fährt rascher über die Saiten.
Aber es wird keine Melodie. Die Töne schleichen einander nach mit
Messern in den Händen, sie entfliehen in der Dunkelheit und verlieren
die Spur, sie erreichen sich wieder und ringen und verwunden einander
mit scharfen Stichen.

»Mein Leben war ein Hungern,« sagt er, und während er spricht,
gleitet das lüsterne Lächeln wieder über seine Lippen. Er richtet den
zusammengesunkenen Körper auf, die Sonnen in seinen Augen brennen
blutroth hinter Wolkenschleiern. »Ein Hunger und ein Durst,« sagt er.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 444, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0444.html)