Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 445
Text
»Gehungert habe ich, lange, saugende Nächte, lange, verdorrende Tage.
Den Durst fühlte ich meine Zunge erstarren und meine Augen er-
löschen, den Hunger meine Glieder zusammenpressen, das Herz ver-
steinern, das Hirn aussaugen. Gehungert, gehungert wie ein Bettler.
Aber gebettelt habe ich nie — für sie gespielt habe ich, und sie
warfen mir Brot und Heller zu, doch auch Hohn und Mitleid. Sie
haben meinen Körper gespeist, sie haben meine Lippen gelabt —
aber meine Gedanken, meine Gedanken, die jagten sie gleich wilden
Thieren, die liessen sie hungern wie Wölfe, wie ausgehungerte, heulende
Wölfe — —«
Der Bogen tummelt sich um die Saiten. Die Töne wirbeln wie
in Raserei, sie erklingen schneidend, wie Lachen in einem Trauerhause,
sie kreischen. Und er steigt empor, er steht hoch auf dem Steine,
in Schnee und Sonne, der Wind reisst die Mütze von seinem Kopfe,
das lange Haar flattert, und der Beutel auf dem Rücken schlenkert
hin und her. Seine Augen sind wie schwarze Wolken, und die
Wolken schiessen Blitze, und er spielt, indess er die Blicke umher-
schweifen lässt.
Da bleiben sie plötzlich am Waldessaume unter dem Felsen
hängen. Da glimmt es in ihnen auf, und der Fiedelbogen gleitet
sachter. Rührt sich der Wald, lebt ein Leben im Schnee? Es raschelt
in den Zwergbirken, die sich wie Vorposten des Lebens gegen Schnee
und Kälte erheben. Da huscht es wie Schatten zwischen den Sträuchern,
die im Winde zittern und beben — Schatten der flüchtigen Wolken
des Raumes. Und die Schatten kommen näher, mit stillen Schritten
eilen sie aus dem Dickicht hervor, in gleichem Takte ziehen sie über
den Schnee — —
Da weiten sich die Augen des Alten. Da huscht das lüsterne
Lächeln wieder um die Lippen, da tanzt der Bogen aufs Neue über
die Saiten; er kennt sie, die Wölfe, er hat schon früher mit ihnen
zu schaffen gehabt, er weiss, was sie wollen. Er spielt für sie, er
spricht zu ihnen, und als sie an den Fuss der höchsten Spitze ge-
kommen sind, machen sie Halt; er lässt sie nicht näher heran, er
spielt sie dort fest, ihre Hinterbeine sind wie festgefroren, die Schweife
peitschen den Schnee, und die Vorderfüsse zittern und schwanken, es
kreischt, es heult, es jammert aus den weit geöffneten rothen Rachen,
sie stehen da in einem dichten Haufen, mit erhobenen Schnauzen, mit
grinsenden, entblössten Zähnen. Da lacht der Spielnarr und spricht zu
ihnen mit einer Stimme, die des Frühlingssturmes Macht und höhnisch-
frohen Klang hat.
»Wie Wölfe, wie ausgehungerte, heulende Wölfe,« sagt er.« Hörtet
ihr meine Stimme im Walde?« ruft er. »Woher kommt ihr — seid ihr
nicht Fleisch und Blut, da ich euch zügeln kann mit meinem Spielen?
Seid ihr nur meine Gedanken, da ich die Macht habe, euch vor mir
tanzen zu lassen? Aha, jetzt ruhig. So — O ja! Warum heulet ihr,
liebe Gedanken mein, meine kleinen Kinderlein — vielleicht hungert
euch? Vielleicht habt ihr lange gehungert — aber wonach hungert
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 445, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0445.html)