Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 446
Text
ihr? Ist es Fleisch, warmes, weiches Fleisch? Oder Blut, saftiges
Blut! Hier habet ihr meinen ganzen Bettelsack, all mein täglich
Brot — ein wenig trocken ist es, eigentlich sind es nur Knochen,
aber davon soll ich leben, sagen die Leute im Thal. Oder ist es
etwas Anderes, wonach euch hungert — danach, euere scharfen
Klauen und euere starken Zähne in grosse, dünne Creaturen zu
schlagen — oder in sehnige Menschenkörper — in Menschen, die euch
hassen und verfolgen danach, euch zu rächen — zu geniessen —
zu leben so ist es wohl, ihr Gedanken mein aber wann
werdet ihr Rache nehmen — wann werdet ihr leben ohne Hunger?
Sterben sollt ihr. Ich will euch zu Tode hetzen, wie ihr mich gehetzt,
ich will euch von Sinnen spielen, und ihr sollt einander zerreissen,
ich habe wohl noch Kraft genug, euch mit meinem Spiel zu lenken.
Ihr habt mich lange genug gejagt, ich will Frieden vor euch haben;
Ruhe will ich haben, zu sterben, im Leben liesset ihr mir ja nie
Ruhe, ich will in Frieden sterben, eines Abends im Walde — sacht,
sacht — eines Abends im Frühling, wenn es im Walde spielt — wenn
es duftet — —«
Seine Stimme starb in einem Schluchzen dahin. Er sank in den
Schnee hinab, und die Fiedel glitt aus seiner Hand. Eine weisse
Wolke nahm die Sonne aus seinen Augen, und auf der Spitze des
Sonnenfelsens wurde sein alter Leib von ausgehungerten Wölfen in
Stücke gerissen, indess der Frühlingswind sang und sang
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 446, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0446.html)