Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 450

Die sieben Brunnen (Annunzio, Gabriele D’)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 450

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450 D’ANNUNZIO.

seltsamen Wesenswandlung, die sich da in ihnen vollzieht, sie ahnen
in ihren Spiegelbildern die Lösung eines grossen Räthsels. Von jen-
seits des Lebens scheinen sie ihnen zu kommen, und wenn ihre er-
schöpften Leiber auf dem weissen Pfühl erstarren, kalter Schweiss aus
allen ihren Poren bricht und unter den schweren Lidern die Pupillen
sich krampfhaft zusammenziehen, dann winkt der Tod zu ihnen her-
über

Dies Alles sah ich, als ich vor den Versen des letzten Brunnens
stand. Violante beugte sich über seine melodisch rauschende Fluth, auf
ihrem Antlitz lag der Schatten der Pinie wie ein zarter Schleier.

Spectarunt nuptas hic se Mors atque Voluptas
Unus [fama ferat] quum duo Vultus erat.

»Wollust und Tod, bräutlich umschlungen, beschauten sich hier
und, so sagt man, statt der beiden Antlitze warf der Spiegel nur eines
zurück.«

II.

»O Herr und Gebieter,« sagte ich zu meinem Dämon, »ich denke
an den, der da kommen soll.«

Und mein Dämon antwortete und sagte: »Wohl sei dies stets
dein höchstes Denken! Doch da die Braut du dir wählen sollst, erscheint
die Wahl dir wie eine grausame Prüfung, die dir viele Schmerzen und
Opfer auferlegen wird, und deine Seele ist betrübt darüber. Erwäge,
dass kein Entschluss der grössten Schmerzen würdiger ist als dieser,
denn er steht vor einer Zeugung neuen Lebens. Nichts auf der Welt
geht ja verloren, und ungeahnte Dinge spriessen oft aus Thränen auf.
Erwäge, dass die höchste Macht des Willens sich nicht in der Schnelligkeit
der Wahl zwischen den Losen, die das Schicksal bietet, offenbart und
nicht in der Festigkeit gegenüber fremden Impulsen, sondern in der
Kunst, den unbewussten Regungen, die in dir wirksam sind, Klarheit
zu verleihen, so dass du sie brauchen und leiten kannst als dienende
Kräfte. Erwäge, dass es ein Mittel gibt, jedem Ereigniss, jedem Wechsel-
fall des ungewissen Lebens gewachsen zu sein. Es stand einmal ein
Sclave neben seinem Herrn, und ein Wink des Herrn konnte des
Sclaven Todesurtheil sein, und doch stand der Sclave so stolz und
frei, dass Niemand wusste, wer denn der Herr und wer der Sclave
war. So stehe du neben deinem Geschicke.«

Der Abend wandelte das tiefe Blau des Himmels in blasses
Hyacinth, dunkel standen die Olivenbäume, in dem tiefen Schatten
ihres Laubes verschwanden die wie von Schmerz gekrümmten düsteren
Stämme, die Wolken, die auf den Spitzen des Gebirges lagen, glühten
nicht wie sonst in Purpur, sie waren nur angehaucht von einem zarten
Roth, das immer mehr verblasste; hie und da löste sich eine Wolke
von den Schwesterwolken und stieg aufwärts ins dunkle Firmament,
als strebte sie nach einer Sternenkrone.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 450, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0450.html)