Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 451

Die sieben Brunnen (Annunzio, Gabriele D’)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 451

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DIE SIEBEN BRUNNEN. 451

Mein Dämon aber fuhr fort und redete also: »Betrachte ruhevoll
die Schönheit der drei Frauen, unter denen du wählen willst. Aus
dieser Betrachtung blühte dir schon so viel Glück, du weisst es ja.
Es ist, als ob aus ihnen Melodien klängen, und du verstehst sie schon,
als wenn du selber sie gedichtet hättest. Aus jedem ihrer Reize wächst
dir die Achse einer neuen Welt. Sie geben dir die Lust eines unauf-
hörlichen Entdeckens und Erzeugens, sie helfen dir, von deinem eigenen
Wesen zu erkennen, was dir davon noch dunkel war, sie scheinen
Lebensfluthen in dich zurückzugiessen, die sie vor unvordenklichen Zeiten
von dir empfingen. Hast du sie nicht schon genossen, bevor sie dir
heute zugelächelt? Da du in tiefem Schweigen an ihrer Seite standest,
fühltest du deine Seele nicht schwer wie eine regenschwangere Wolke?«

»O Herr und Gebieter,« sagte ich, und meine Seele wendete sich
noch einmal mit unendlicher Sehnsucht gegen den holden Garten zurück,
den ich nun verliess. »O Herr und Gebieter, es ist wahr; da ich an
ihrer Seite schweigend stand, genoss ich einer höheren Wollust, als
wenn ich die schweren Flechten ihres Haares lösen oder meine Lippen
auf ihre weissen Schultern hätte pressen können, und noch bin ich voll
von dieser Wollust. Und doch möcht’ ich verstohlen zurückeilen zu
ihnen und unsichtbar mich über ihre jungfräulichen Brüste neigen und
dort lauschen, denn aus diesen Brüsten, denk’ ich, müsste eine grosse
Süssigkeit und eine grosse Schwermuth, wie ich sie nie mehr empfinden
werde, aufsteigen in die Nacht und hinüberfliessen in mein Herz.«


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 451, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0451.html)