Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 453
Text
Von Charles Baudelaire (Paris). I. Abenddämmern.
Der Tag schwindet. Durch die Seelen der Menschen,
die unter der Last seiner Knechtschaft seufzten, zieht eine
grosse Stille; und ihre Gedanken nehmen allmälich die halben
und Ungewissen Farben der Dämmerung an.
? erquickende Finsternisse der Nacht! Ihr verheisst
mir ein innerliches Fest, ihr bringt mir Befreiung von
drückender Angst. Das Funkeln der Sterne in der Einsam-
keit der Felder, das Licht der Laternen in den steinigen
Labyrinthen der grossen Stadt: mir bedeutet es das Feuer-
werk, das die Freiheit begrüsst.
Die Dämmerung ist so süss und zärtlich Die violetten
Lichter, die am Horizont das Sterben des Tages verkünden;
die Feuer in den Armleuchtern, die dunkelrothen Schein
durch den Abend werfen; und die schweren Wolken, die wie
Vorhänge eine unsichtbare Hand aus den Tiefen des Ostens
herüberzieht: sie sind Sinnbilder der zusammengesetzten
Gefühlsvorgänge, die sich in den grossen Augenblicken des
Lebens in der Brust der Menschen abspielen.
Durch die Tiefen der Dunkelheit schimmern die Köstlich-
keiten vergangener Tage; und die Sterne, die sie durchglühen,
glitzernd wie Gold und Perlen, sie deuten mir die Feuer-
zauber der Phantasie, die in riesigem Brande durch die
Finsternisse der Nacht lodert.
Der Tag ist voll der Wunder. Wie die Jugend, von
der Liebe geweckt, blüht der weite Park unter dem Glutauge
der Sonne auf.
Aber durch keinen Ton verräth sich die Ekstase
aller Dinge; die Wasserspiele selbst scheinen zu schlafen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 453, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0453.html)