Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 456
Text
Von Emile Verhaeren.
Deutsch von Clara Theumann.
Seit dem Tode Victor Hugo’s hat der Paul Verlaine’s die fran-
zösische Literatur am schwersten getroffen. Und dennoch waren
Théodore de Banville und Leconte de Lisle vor ihm dahingegangen.
Théodore de Banville war ein ironischer, ebenso naiver als
wunderbarer Dichter. Frische Pracht, Thautropfenschmuck und Wasser-
perlen auf den Blüthen schmücken seinen Kunstgarten. Der vielfarbige
Harlekin, gleichsam in ein Kartenspiel gekleidet, köpft dort mit seiner
Pritsche die Schösslinge und die jungen Zweige. Colombine lacht, und
reiner, klarer Wiederhall erklingt, wenn sie höhnt. Pierrot durchschreitet
geschminkt, mit Mehl, Zucker oder Schnee bestäubt, die breiten Wege
und spiegelt sein weisses Antlitz in einer durchsichtigen Quelle. Natur
und Kunst prallen hart aneinander auf diesem köstlichen Gebiet.
Leider bewegen sich alle diese Personen nur auf halber Höhe des
Parnasses, entfalten sich all diese heiteren Feste nur auf halber Höhe
des idealen Berges; die hohen Gipfel stehen über ihnen.
Leconte de Lisle baute sich einen feierlichen, geradlinigen Tempel.
Schwerfällige Ecken; enorme Steinblöcke. Seine Gedichte erstehen aus
ihnen wie Orakelsprüche. Seine Monologe sind langsame, ausgeglichene,
prachtvolle Verkündigungen. Theogonien und Legenden leben unter
seinem Hauche auf. Ganze Systeme und Sittengesetze haben seine
lyrische Pracht. Als Philosoph, Mythologe und Historiker bleibt er
dennoch genug ursprünglicher Dichter, um die weit ausgespannten
Fittiche seiner mit Wissenschaft beschwerten Verse bis zur Sonne zu
erheben.
Leider steht sein mächtiges poetisches Denkmal zu nahe jenem
übergrossen Berge, der Victor Hugo heisst, und »La Légende des
Siècles« wirft ihren drückenden Schatten auf die »Poèmes antiques et
barbares«.
Wie gross also der Werth Banville’s und Leconte de Lisle’s auch
sei, sie scheinen immer einem Höheren tributpflichtig zu sein; sie
strahlen nicht genug in eigenem Feuer; sie sind theils die gleich-
werthigen, theils die prächtigen Vasallen jenes Mannes, der der un-
endlich grosse Dichter unseres Jahrhunderts war und der auch wie
Carl der Grosse, das Bild einer Welt in seinen Händen hielt. — — —
Ganz anders zeigt sich Paul Verlaine. Wenn die »Poèmes Satur-
niens« noch voll sind von den Traditionen des »Parnass«, wenn die
»Fêtes galantes« von der »Fête chez Thérèse« zu stammen scheinen,
welche Victor Hugo in seinen »Contemplations« anordnete, treten die
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 456, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0456.html)