Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 460
Text
Von Franz Servaes (Berlin).
»Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibet der Erde treu,«
also schreibt Nietzsche-Zarathustra. Seine innerste Angst um uns, um
sich selber hat er in diesem Wort verrathen. Ihm ist Erdenflucht
gleichbedeutend mit Verleumdung des Lebens, mit schwächlich-finsterem,
moralistischem Aberglauben. Um das Gut der Erde hob er das Schwert
auf wider das Christenthum, als wider die Lehre vom Fluche Gottes,
der da auf aller Creatur liegen soll. Durch den Begriff »Sünde« sieht
er die Erde entheiligt, das kindliche Zutrauen des Menschen zur
grossen Mutter erschüttert, aller Zwiespältigkeit, Kränklichkeit und
Heuchelei die Wege freigemacht. Und weil er ein Künder der Lust,
der Gesundheit und der Reinheit ist, spricht er sein beschwörendes
»Bleibet der Erde treu«.
Der Dichter, von dem hier die Rede sein soll, Paul Scheer-
bart, hat ein anderes Wort. »Hasst die Erde! Hasst die Erde!«
predigt er unumwunden und unermüdlich. Aber ist er darum ein
»Prediger des Todten«? O nein! Höchste Rauschlust, dithyrambischer
Taumel spricht aus ihm, eine ausgespannte Dichtersehnsucht, der die
Erde zu klein, viel zu klein erscheint, zu ärmlich, zu schnöde, zu
nüchtern.
Mit Keckheit setzt er seine Farben den Erdenfarben entgegen.
Was ist ihm die Erde? Im grossen All ein winziger Stern, an dem
wir kleben, kleben, kleben. Und doch reisst uns die Sehnsucht empor,
wenn wir dastehen und blicken auf zum gestirnten Himmel, dann reisst
sie uns empor, und wir fliegen mit unserer Einbildung umher von
Stern zu Stern, lauschen den süssen bethörenden Klängen ihres mächtigen
Sausens und schauen die funkelnden Bahnen ihres harmonischen Kreisens
durch das unermessliche Weltenall. Und diese Millionen Sterne, von
denen viele millionenmal grösser sind als unsere Erde, sie tragen auch
Leben in sich und lebende Wesen auf ihrem Rücken? So fragen wir
erstaunt, und in unserer Phantasie regt sich ein schmeichelndes Grauen,
und wir träumen von unerhörten Dingen, nie geschauten Welten.
Dies ist uns Allen gemeinsam. Aber keiner von uns hat es jemals
gewagt, diese Welten sich auszudenken und sie kühn zu bevölkern mit
Wesen und Farben unserer Phantasie. In der ganzen Weltliteratur
thaten das nur wenige grosse Dichter, denen dann die Völker gleich
geheimnissvollen Priestern lauschten. Und da steht heute unter uns
skeptischen Modernen Einer auf und thut desgleichen: Paul Scheerbart
An den literarischen Kneiptischen Berlins erschallt lautes Halloh,
sobald mit fidelen Wackelschritten Scheerbart zur Thür hineinkommt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 460, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0460.html)