Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 461

Der Dichter der Sternenwelt (Servaes, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 461

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DER DICHTER DER STERNENWELT. 461

Alle kennen ihn — fast mit Allen steht er auf Du — das Schmollis-
trinken ist bei ihm eine feste und schöne Gewohnheit — beinahe
Ehrensache — und Alle freuen sich — denn jetzt wird’s lustig werden
— Bier und Weisheit werden in Strömen fliessen und immer noch ein
paar Schnäpse daneben. Freilich, man muss für ihn bezahlen — Scheer-
bart hat niemals Geld — nicht, dass er kein’s mitbrächte — er hat
wirklich kein’s — ist Anticapitalist — und wer mit ihm trinken will,
seiner Sternen- und Galgenvogelweisheit auf den Grund blicken, der
muss mäcenatenhaft den Säckel ziehen — Scheerbart nimmt’s nicht
übel — er ist weitherzig in dem Punkt wie irgend ein antiker Cyniker
oder mittelalterlicher Bettelmönch. Im Uebrigen weiss er, was seine
Unterhaltung werth ist — dass die Menschen sich freier, stärker fühlen
— und leichter vor Allem.

Scheerbart zählt jetzt vierunddreissig Jahre. Also zu den »Aller-
jüngsten« gehört er nicht mehr. Er hatte aber bis vor Kurzem noch
fast nichts herausgegeben. Auch in Zeitschriften war wenig erschienen.
Die Redactionen hatten rührend und regelmässig seine Einsendungen
»mit bestem Dank« — zuweilen auch ohne diesen! — zurückgeschickt.
In Berlin aber wussten die Intimen der Literatur, welch ein Künstler
in diesem Scheerbart steckte. Doch die Wenigsten sagten das laut.
Der Tag, mit dem Scheerbart einmal voll an die Oeffentlichkeit treten
würde, war ein wenig — gefürchtet!

Jetzt liegen zwei neue Bücher vor — »Romane« kann man sie wohl
nennen — Scheerbart selbst wählt diesen Titel — aber er passt natürlich
nicht. Also: »Tarub, Bagdads berühmte Köchin. Arabischer
Culturroman
« (Verlag Hugo Storm, Berlin), und »Ich liebe dich!
Ein Eisenbahnroman mit 66 Intermezzos« (Verlag Schuster &
Loeffler, Berlin). Vorher sind erschienen in dem von Scheerbart be-
gründeten »Verlag deutscher Phantasten«, beide im Jahre 1893: »Das
Paradies
. Die Heimat der Kunst« und »Ja was möchten
wir nicht Alles
! Ein Wunderfabelreich«, von letzterem jedoch
bloss das erste Heft.

Die beiden zuerst erschienenen Bücher sind nicht »gegangen«,
blieben überhaupt fast unbeachtet. Das ist zum Theil recht erklärlich,
wenn auch keineswegs »verdient«. Scheerbart hat dort für das Neue,
das er zu sagen hat, noch nicht die zwingende, prägnante Form ge-
funden. Die alten Formen hat er bereits über Bord geworfen. Dadurch
kommt etwas Ungewisses, Unfassbares in den Ton, ein Schillern und
Oscilliren, man weiss nicht wohin und woher. Vor Allem aber hatte
Scheerbart damals die Knappheit noch nicht. Seine phantastisch-kosmi-
schen Visionen suchte er genau so detaillirt zu beschreiben wie
irgend ein Naturalist seine Lebensausschnitte. Ja, er sah sich ge-
zwungen, noch viel detaillirter zu werden. Das wirkte sehr ermüdend.
Fast Niemand konnte folgen.

Aber so viel war auch damals schon klar, dass man sich einer
frappirenden, aller Convention ledigen, leidenschaftlich »das Neue«
suchenden Begabung gegenüber befand, einem Menschen, der im

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 461, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0461.html)