Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 462
Text
Kosmos so leicht und fröhlich umherflog, wie Andere auf der Erde
wandeln, und der in Farben- und Lichtvisionen schwelgte, dass es
einem förmlich das Auge blendete. Und wo man das Pochen einer
solch tief originellen Kraft fühlt, da weiss man, wird eines Tages auch
der Durchbruch erfolgen.
Dieser Durchbruch ist jetzt da. »Tarub« und »Ich liebe dich!«
haben ihn bewirkt.
»Tarub« führt uns in den Orient, wie er vor tausend Jahren war,
von 892 bis 897. Wir haben von 1892 bis 1897 in Berlin Aehn-
liches erlebt, nur haben wir’s nicht so farbig, so »orientalisch« gesehen.
Directe Parallelen sind vermieden oder nur den Kennern spürbar. Aber
das Ganze der literarischen Bestrebungen in Alt-Bagdad gleicht doch
fast unheimlich denen von Jung-Berlin. Auch damals stand man unter
einem lähmenden Druck von oben, that sich zusammen in geheimen
Bünden, wollte neue Richtungen gründen, schwelgte in excentrischen
Zukunftshoffnungen. Und Alles ist dann später sachte zerronnen, nur
Wenige rangen sich durch, Manche erschlafften, der Talentvollste ging
unter. Das Beste kriegten schliesslich die Tofailys, die Literaturratten,
die sich über die Reste vom Mahle der Anderen herstürzen und Alles
zerknabbern, zernagen
Der weise Abu Maschar wird also im Ganzen Recht haben,
wenn er sagt, dass die Welt sich nicht entwickle. »Sie wird nach
tausend Jahren genau so klug und genau so dumm sein — wie sie’s
heute ist.«
Der Dichter Safur aber »liebt« seine Dschinne, d. i. ein visionäres
Wüstenweib, schwarz von Antlitz und Haaren und blau von Lippen
und Augen. Durch diese transcendentale Liebschaft sucht er sich aus
der Gegenwart und Wirklichkeit zu retten, vor Allem aber vor seiner
Tarub, der Köchin, die ihn derb und irdisch liebt, oft sehr derb —
selbst mit den Fäusten! — und die »das Bleigewicht« ist, das ihn,
»der in eine andere Welt hinauffliegen will, an die Erde fesselt«. Natür-
lich geht Safur zugrunde.
Er war ein raffinirter Genussmensch, nicht bloss in Speisen und
Getränken und im behaglichen Dahinschlendern durchs Leben, auch in
allen geistigen Dingen, so dass er schliesslich »das Unsinnige, das
Tolle, das Unverständliche, das Unbegreifliche, das Uebersinnliche ge-
niessen« will, »geniessen, was nur die Geister geniessen können«.
Dies ist der Sinn seiner »Liebe« zur Dschinne. Aber dafür ist er durch
irdischen Genuss zu entnervt, um seine kosmische Buhlschaft mit dem Blute
lebendigster Phantasiekraft erfüllen zu können. Sein grosses Dschinnen-
Gedicht hat er nicht niederschreiben können.
Der Flucht in den Orient und in die Vergangenheit — in dem
Falle fast gleichbedeutend mit einer Flucht in die Zukunft — ent-
spricht in dem Roman »Ich liebe dich!« die Flucht aus Berlin. Das
klingt harmlos und präsentirt sich der Form nach als närrischer Scherz
— denn Scheerbart reist mit einem Rechtsanwalt Müller zusammen
nach Nowaja-Semlja — dahinter aber bebt doch ein tiefer und leiden-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 462, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0462.html)