Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 470

Die Venetianerin des Rococo (Schäffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 470

Text

DIE VENETIANERIN DES ROCOCO.
Von Emil Schaeffer. (Breslau.)
(Eine Umrisszeichnung.)

Es ging zu Ende mit der Macht und der Herrlichkeit Venedigs.
Noch immer freilich fuhr der Bucentoro am Tage der Himmelfahrt
Christi heraus ins Meer, der Doge warf den goldenen Ring in die
grüne Fluth und sprach die stolzen Worte: »Desponsamus Te Mare,
in signum veri perpetingue dominii.« Aber was vor Zeiten ein Symbol
lebendiger Kraft gewesen, das wirkte nun wie der frostige Prunk einer
rasselnden Ausstattungsoper, und der Doge sammt den Conseglieri
glichen Acteuren, die sich für einen Abend Grösse und Hoheit auf die
Wangen geschminkt. Die Ambassadeure aller europäischen Staaten
bildeten die Zuschauer dieser theatralischen Scene, und die Gesandten
Englands und der Niederlande mochten sich bei dem lateinischen
Satze des Dogen mit seltsamem Lächeln zublinzeln; wussten sie doch,
dass ihre Lande längst Venetia aus der Gunst des Meeres verdrängt
hatten. Der Welthandel schlug seit dem Cinquecento andere Wege ein,
die grossen Schiffe des vorigen Jahrhunderts fuhren nicht mehr in die
seichten Lagunen, und der Hafen, wo dereinst Mast neben Mast ragte,
er war verödet. Mit der commerciellen war selbstverständlich auch
Venedigs politische Bedeutung geschwanden. Stück für Stück der früher
gemachten Beute entrissen die Feinde den kraftlos gewordenen Fängen
des greisen Löwen; seit dem Frieden von Passarowitz gab es Venedig
gänzlich auf, die kostspielige Rolle einer Grossmacht zu spielen, ver-
zichtete auf alle Besitzungen im Orient und begnügte sich mit einer
Neutralität aus Schwäche, die ungestraft und ungescheut verletzt wurde.

Venedig starb; doch es war ein Sterben in Schönheit; die traurige,
hässliche Agonie blieb der Sonnenstadt erspart; wie Don Giovanni
endete Venezia, lachend, küssend, den Champagnerbecher in der Hand.
Das Höchste, was (vom Aesthetenstandpunkt betrachtet) ein Volk er-
reichen kann, aus dem Leben ein Kunstwerk formen, den Venetianern
des Rococo ist es gelungen; sie wussten zu geniessen, im Un-
scheinbarsten noch seine letzte, leiseste Schönheit mit Artisteninstinct
zu erspüren. All den scharfen Verstand, dessen sie für den Handel
nicht mehr bedurften, all ihre Talente, die sie weder im Kriege, noch
in der Diplomatie verwenden konnten, sie benutzten sie, um das Leben
in ein Gedicht voll Südlandsschimmer, Grazie und Duft zu wandeln,
dass man die Feder eigentlich in Parfum tauchen müsste, um würdig
darüber zu schreiben.

Zum Leben beteten die Venetianer immer, aber ihr Verhältniss
zu den Dingen hatte stets gewechselt. Das Quattrocento stand vor

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 470, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0470.html)