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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 474

Text

CHRONIK.
Von Karl Kraus (Wien).

Der Operettenkrieg mit Musik von Weinberger, der jetzt in
Thessalien ohne Rücksicht auf das europäische Concert aufgeführt
wird, scheint sich auf dem Repertoire zu halten, und die Nachrichten
von dem Siegeslauf der türkischen Truppen haben nicht nur in den
civilisirten Gegenden Europas, sondern auch in Wien die verschieden-
artigsten Eindrücke zurückgelassen. Anhänger des europäischen Friedens
und Hellenophilen standen einander allerorten gegenüber, die Wiener
aber haben sich mit einhelliger Begeisterung auf die Seite Lueger’s
geschlagen. Die Eroberung des Melunapasses durch die Türken stärkte
die freudige Zuversicht unserer Bevölkerung, ohne dass jedoch die
feierliche Illumination, die kürzlich dem nächtlichen Wien das Aussehen
einer normal beleuchteten Grossstadt verliehen hat, mit dem Siege bei
Tyrnavos in Zusammenhang gebracht werden dürfte. Als endlich die
Entscheidungsschlacht bei Mati mit einer vollständigen Niederlage der
griechischen Truppen geendet hatte, da konnten es sich die Wiener nicht
versagen, »Hoch Lueger!« zu rufen. Damit haben sie zu verstehen
gegeben, dass sie nicht in eine Linie mit den Faust’schen Pfahlbürgern
gestellt sein wollen, da diese an Sonn- und Feiertagen wenigstens ein
Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei zu führen wissen, während die
Wiener an allen Tagen der Woche sich ausschliesslich für Herrn Lueger
interessiren. Es muss übrigens zugestanden werden, dass der Anti-
semitismus, dessen schlichte Tendenz bisher in einer leichtfasslichen Ab-
neigung gegen die Juden bestanden hat, gerade jetzt eine Erweiterung seines
politischen Ideenkreises anbahnt. Er nähert sich insoferne dem social-
demokratischen Programme, als die Geistesarmuth fortan nicht mehr
ein Privilegium gewisser bevorzugter Classen sein soll, vielmehr die
allgemeine Dummheit auf der Grundlage der Gleichberechtigung an-
gestrebt wird.

Das neu constituirte Abgeordnetenhaus hat kurz vor Ostern
seine Sitzungen eröffnet. Bevor man zum erstenmale zur Tagesordnung
schritt, bevor noch in Wahrung der alten Traditionen des Hauses einer
der neuen Männer Gelegenheit fand, seinem Parteigegner das erste
»Halt’s Maul!« zuzurufen, musste der Präsident die zahlreich einge-
laufenen Immunitätsgesuche erledigen. Einige Abgeordnete werden von
den Gerichten da und dorten im Reiche requirirt, um Herrn Mitter-
mayer reissen sich sogar 1 Landes- und 2 Bezirksgerichte. Dieser ist in Folge
eines von ihm begangenen Diebstahls zuerst aus der Kellnergenossenschaft
ausgestossen worden, um dann zu sechs Jahren schweren Parlaments ver-
urtheilt zu werden, so dass sich an öffentlichen Plätzen folgende Ab-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 474, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0474.html)