Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 478

Text

KRITIK.

Die Varrini. (Italienische
Stagione.) Neben Zacconi, dem
Gerühmten, und über ihn hinaus
ist ein neuer Stern aufgegangen:
die Varrini. Niemand hatte sie
gekannt, die kleine, schmächtige
Frau mit dem eckigen Gesicht und
den wundervollen, brennenden
Augen, nicht einmal die Zeitungen
hatten sie angekündigt; sie scheint
sich also selbst nicht gekannt zu
haben. Und doch ist sie der
Grössten eine. Wie die Varrini
spielt, hat noch Niemand gespielt,
auch nicht die Duse. Da ist nichts
von der aufdringlich pantomimi-
schen Technik, die jede Seelen-
schwingung mit einem affectirten
Tremolo der Fingergelenke accen-
tuirt, keine Spur von effectsuchen-
dem Virtuosenthum oder jener
tollwüthigen Hysterie, die ausser-
halb der Irrenhäuser nur bei fah-
renden Komödianten zu treffen ist.
Die Varini »spielt« überhaupt nicht,
die Varrini lebt ihre Rolle, sie weint
wirklich und lacht wirklich, sie
wird plötzlich blass und wieder
roth — das ist ohne Autosugge-
stion unmöglich. Die Varrini hat
kaum eine andere Geberdensprache,
als das leise nervöse Zucken ihres
Gesichtes, und ihr Styl, wenn man
schon durchaus einen Styl will, ist
vollendete Naturwahrheit. Wenn
sie auf der Scene ist, ist sie der
Brennpunkt der Handlung und des
Interesses, man kann kein Auge
von ihr wenden, wenn sie, wie als

Katharina Vockerat, stumm vor
sich hinblickt und der nagende
Kummer ihres Herzens in den
Vibrationen ihrer Gesichtsnerven
zittert. Und die Augenblicke höch-
ster Leidenschaft, wenn sie mit
knöchernen Fingern ihr Haar zurück-
streicht, und ihr Antlitz, starr,
entsetzt, sich leichenhaft verfärbt
— das war kein Schauspiel mehr,
das war die lebendige Anschauung
eines wirklichen Menschenschick-
sals. Das ist eine Kunst, die die
divinatorische Intuition des Poeten
hat, und das Auge eines Malers,
der ein Seher ist. Es ist dichterisch
beseelter Naturalismus, in seiner
herrlichen Styllosigkeit ein neuer,
erlösender Styl.

F. E—n.

Carltheater. Französi-
sches Gastspiel.

Sie haben ein eigenes Kreuz,
diese Franzosen, die jetzt im Carl-
theater schlechte Stücke mimen.
Sie setzen zwar Alles daran, um
uns sympathisch zu stimmen: sie
machen elende Geschäfte, sie lassen
sich sogar bestehlen; aber alles
das verfängt nicht und kann die
Dürftigkeit, die völlige Werthlosig-
keit ihrer Productionen nicht ver-
gessen machen. Diesem Ensemble
ist der Charakter des wahllos Zu-
sammengewürfelten denn doch zu
deutlich aufgedrückt. Jede Einheit
fehlt, jede Geschlossenheit mangelt.
Grellere, unvermitteltere Contraste
sind wohl nicht denkbar. Da ist An-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 478, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0478.html)