Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 473
Text
Stammeln überzwitschern hoch droben jubelnde Vögel, überplätschern
die Fontänen, und dann, eine dichte Taxushecke scheidet sie ja von
der nächsten Bank, wo die Gattin des Senators mit einem Abbate
dem Wesen des Kusses nachgrübelt. Erlaubt ist, was gefällt, konnte
als Gruss über jedem Portale winken, aller steife Zwang, die Daum-
schrauben der Convention, Alles war in Venedig geblieben; dorme,
chi vuol dormir, schildert Goldoni, magna, chi ha fame, balla, chi
vol ballar, canta, chi sa
Die Gentildonna, als Mädchen zum Haremsdasein verurtheilt,
durfte als Frau in diesem glücklichen Jahrhundert lassen und thun,
was sie wollte, und diese neu erworbene Freiheit benützte sie im
vollsten Masse, um die altererbte Neigung für raffinirte Toilette zu
befriedigen. Aber die wundervolle Frauentracht der Renaissance war
das Werk der Venetianerin gewesen, sie gab der Mode ihre Gesetze;
die Dame des Rococo folgte schon den Weisungen des Pariser Ge-
schmackes, der ungefähr seit dem Jahre 1680 der allein massgebende
ward. Doch gab es noch immer zwei nur der Venetianerin gehörende
Costümdetails: den Zendaletto und die Banta. Zendá oder Zendaletto
nannte man einen grossen Spitzenschleier, der den Kopf einhüllte, sich
um Busen und Taille schlang und hinten so zusammengebunden wurde,
dass die beiden Enden lang herabhingen. Die Banta war ein seidener
Mantel mit einer Sammetkapuze, über der sehr geschickt der Dreispitz
sass. Die Banta deckte auch das Antlitz mit der allen Librettisten
und Romanciers wohlbekannten Halblarve aus Sammet oder dunkler
Seide; da sie ein Erkanntwerden unmöglich machte, so liebte man die
Banta besonders im Jahrhundert galanter Intriguen und heimlicher
Rendezvous.
Funkelndes Geschmeide, strahlende Juwelen bildeten noch immer
Traum und Sehnsucht der Patricierin, sogar auf den niedlichen Schuhen
flimmerte ein Diamant. Die schweren Ringe und Ketten der Renaissance
aber waren zarten, hingehauchten Filigranarbeiten gewichen, und wie
man eine Filigrannadel im Haar trug, in welcher Hand man den
perlengezierten Fächer hielt, wo man ein Schönheitspflästerchen an-
brachte, das Alles diente zum Ausdruck einer stummen Sprache, deren
complicirte Grammatik jeder Liebende erlernen musste.
In der Frau, die ihre Fesseln abgestreift hatte, erwuchs natürlich
der Courtisane eine gefährliche Gegnerin. Sie hatte nicht mehr die
Bedeutung für Leben und Kunst wie dereinst, doch war ihre Macht
noch immer gross genug, um die Patricierin eifersüchtig zu machen,
zumal sie an Schönheit und besonders an Geist den Gentildonne
durchaus nichts nachgab.
Geist, spirito, darf wohl als Schlagwort für das Rococo gelten,
wie «umile» für das Quattrocento und »maestá« für die Hochrenaissance.
Patricierin und Courtisane, sie wanderten Hand in Hand dem Ziele
»donna di spirito« zu.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 473, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0473.html)