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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 475

Text

CHRONIK. 475

änderung eines bekannten Textes empfehlen wird: Vor Abgeord-
neten wird gewarnt! Jetzt ist auch das Räthsel gelöst, das Vielen
der Aufenthalt des Berliner Polizeipräsidenten, des Herrn v. Windheim,
in Wien aufgegeben hat. Die Berliner Polizei, sagte man sich lange,
hat es schliesslich nicht nöthig, sich Wiener Zustände zum Muster zu
nehmen. Wohl hat unsere Polizei in den letzten Jahren in der Art,
Verbrecher nicht zu erwischen, Fortschritte gemacht, technische Ver-
besserungen eingeführt, die indess jedenfalls von den Berlinern wieder
übertroffen sind. Aber die eigenartige Neuerung, dass man bei uns die
Taschendiebe, wenn sie geständig sind, ins Parlament schickt, scheint
Herrn v. Windheim mächtig angezogen und veranlasst zu haben, die
Einrichtungen unseres Polizeiwesens einmal gründlich zu studiren.

Das Burgtheater ist geschlossen, der Umbau des Zuschauerraumes
in Angriff genommen und die Hoffnungen aller Freunde dieses Theaters
gehen dahin, dass sich die im Hause am Franzensringe geplanten Ver-
änderungen auch auf die Directionskanzlei erstrecken mögen. Die Hof-
schauspieler haben Ferien und beschäftigen sich jetzt ausschliesslich damit,
sich um ihre schwerkranke Collegin Charlotte Wolter nicht zu kümmern.
Die Lieblosigkeit, die hier spontan zum Ausdrucke kommt, glaubt man
ihnen wohl, aber von ihrer Routine hätte man erwarten können, dass
sie sich besser auf das Decorum verstünden.

Während nun den Missgriffen des Directors Burckhard für
diese Saison bereits eine Grenze gesteckt ist, geht es in der Hofoper
noch fleissig drunter und drüber. Da werden noch immer verdiente
Mitglieder hinausgejagt, damit Platz für jenen Nachwuchs geschafft
werde, den einzelne massgebende Persönlichkeiten so dringend be-
nöthigen. Diese befassen sich zumeist selbst mit der Entdeckung der
jungen Talente, so dass ein kleines Verhältniss in der Provinz oft die
unangenehmsten Folgen für das Publicum der Residenz hat. Da darf
sich der Leiter des Burgtheaters, wiewohl auch er hin und wieder im
Amtswege gegen die Tradition des Hauses und gegen den künstle-
rischen Geschmack sündigen muss, doch viel freier bewegen; er ist
energisch und selbstständig genug, sich nicht von Nebenrücksichten, son-
dern von reiner Kunstverständnisslosigkeit leiten zu lassen. Zur Erholung
des Hoftheaterpublicums tritt übrigens demnächst der Generalintendant
Freiherr v. Bezecny einen längeren Urlaub an. Er war ehedem ein
»kunstsinniger Sectionschef«, dem es Spass machte, seinen wohlverdienten
Ruhestand durch zeitweisen Besuch der Hoftheater zu unterbrechen.
So ward er Generalintendant, Verwalter unserer vornehmsten künstle-
rischen Schätze. Nun hat man nach einem geeigneten Nachfolger des
Baron Bezecny wieder in der Weise gesucht, dass Beamte des Oberst-
hofmeisteramtes in der Oper Aufstellung nahmen und controlirten, ob
einer von den pensionirten Sectionschefs irgend welchen Ministeriums
das Theater besuche. In einer Loge ward endlich Herr Baron
Plappart entdeckt, sein Kunstsinn erkannt und seine Ernennung zum
Verwalter unserer vornehmsten künstlerischen Schätze vom Oberst-
hofmeisteramte genehmigt. Herr v. Plappart ahnte nicht, dass der Besuch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 475, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0475.html)