Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 476
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der »Faust«- oder »Mignon«-Vorstellung sein Candidatenbesuch für die
Stelle eines Generalintendanten war.
Das Gastspiel, das ein französisches Ensemble im Carltheater so-
eben absolvirte, hat wohl einzig und allein zur Befestigung des Selbst-
bewusstseins unserer Schauspieler gedient, welches durch das Auftreten
der Italiener bedenklich ins Wanken gerathen war. Eine zusammen-
gewürfelte Truppe hatte uns nämlich wieder einmal einen Begriff von
der schwindelnden Höhe der italienischen Bühnenkunst beigebracht,
ein Verdienst, welches über den Leistungen Zacconi’s selbst steht.
Dass gerade die Burgschauspieler den Productionen einer Varrini und
einer Volante nicht beiwohnten, ist wohl bedauerlich, aber schärfer
muss man doch die Hörer der medicinischen Facultät tadeln, wenn
einer von ihnen Zacconi’s physiologischen Anschauungsunterricht ge-
schwänzt oder es unterlassen haben sollte, sich den Besuch der Vor-
stellungen von ihm testiren zu lassen. Zuerst lehrte Herr Zacconi mit
einer Eindringlichkeit, die den meisten unserer Hochschulprofessoren
abgeht, das Wesen der progressiven Gehirnparalyse; mag der Vortrag
eines Krafft-Ebing oder Benedikt nicht weniger instructiv sein, die Mittel
eines Zacconi sind Beiden versagt. Die Aufführung von „Morte civile«
war für die Sanitätsärzte der Freiwilligen Rettungsgesellschaft, nament-
lich aber für die Hörer der volksthümlichen Universitätscurse inter-
essant, da Herr Zacconi hier in ungemein anschaulicher Weise die
Symptome einer Strychninvergiftung vorführte. Wie — sagte man
sich mit Recht — mag dieser Schauspieler erst die Beulenpest dar-
stellen! Zacconi wird in Wien Schule machen, aber nicht nur auf den
Universitäten, sondern auch in den Conservatorien. Kein junger Mime,
der nicht fortan einen Zacconi-Tod als Befähigungsnachweis zu erbringen
haben wird, bevor er an eine grössere Bühne engagirt wird. So werden
Zacconi’s Leistungen befruchtend auf Wissenschaft und Kunst einwirken.
In Wien wird man an die letzte Scène des »Morte civile«, an den
sterbenden Corrado noch lange denken, man wird dieses Antlitz nicht
vergessen, dessen Züge zuerst vom Tode und dann vom Maler
Beraton entstellt worden sind.
Den directen Gegensatz zu dem Idealismus des eben genannten
Künstlers, der seinen Mangel an Talent in den Dienst einer höheren
Aufgabe stellt, bildet der praktische Sinn unserer besten Maler, die
neuestens ganz in der Verherrlichung von Industrieerzeugnissen
aufgehen. Da wird die Wirkung des Odols mit impressionistischer
Farbenpracht veranschaulicht, da bearbeitet eine prärafaelitische Dame
Singer’s Nähmaschine. Während nun die Anpreisung von Wasmuth’s
Ringen in der Uhr noch immer dem mittelmässigen Stifte eines
Durchschnittszeichners überlassen ist, haben Anton Lindner’s
»Barrisons« in Th. Th. Heine einen modern künstlerischen Illu-
strator gefunden. Trotzdem aber werden Wasmuth’s Ringe viel
reissenderen Absatz finden als das Buch des Jungwiener Schriftstellers.
Lindner hat die Sache nicht gerade geschickt angepackt. Der unkünstleri-
sche Stoff, den er sich gewählt, wäre wohl actuell und zugkräftig,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 476, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0476.html)