Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 471

Die Venetianerin des Rococo (Schäffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 471

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DIE VENETIANERIN DES ROCOCO. 471

ihnen mit der staunenden Verzücktheit der Kinder oder des Dichters,
der jeden Tag die hellen Blumen, den Himmel und die süssen Frauen
sich neu erschafft und vor der rauschenden Fülle der Schönheit sich
weinend, wie der Klinger’sche Jüngling, in den Staub wirft. Der Sohn
des Cinquecento küsste in der Naivetät einer starken Sinnlichkeit
lechzend und leidenschaftlich das Leben auf seine vollen Lippen; der
Venetianer des Rococo (das XVII. Jahrhundert war nur ein brutal
gewordenes Cinquecento), er hing am Leben wie an einer Geliebten,
die man schon lange hat, mit leiser, schon ein bischen verwelkter
Zärtlichkeit; er küsste es gern, aber lieber noch plauderte er mit ihm.
Die Nerven waren müde geworden; sie vertrugen nicht mehr starke
Emotionen. Das Grelle, Gewaltige und die glühenden Farben, Alles
wurde discreter, delicater, verschleierter Die brausenden Fanfaren
des Cinquecento wurden zur weichen Coloratur, das priapische Grinsen
Aretinos wandelte sich zu Chiaris pikantem Lächeln, auf das heisse
Roth des Veronese folgte der kühle Silberton Tiepolos, die Welt der
Kraft wurde von der Welt der Grazie abgelöst.

Und dies neue Venedig legte mit koketter Verbeugung der
Patricier huldigend dem Weibe zu Füssen. War es vordem nur Ge-
bieterin der Kunst gewesen, dem Manne im allergünstigsten Falle das
schönste Decorationsstück seines Palazzo, so rief man’s jetzt zur Herrin
über das Leben aus. Der Nobile, dem die Verhältnisse verboten, sich
noch viel um Handel und Politik zu kümmern, der mit seinen Ge-
danken nicht mehr in die Ferne schweifen konnte, er entdeckte das
nahe Gute — die Venetianerin. Demüthig beugte er sein Knie vor ihr,
bat um Verzeihung für Alles, was die Vergangenheit Böses ihr gethan,
und die Sünden der Väter wurden von den Enkeln mehr als wett-
gemacht.

Verdammte das Gesetz früher die Venetianerin zu freudlosem
Hausarrest, so brachten jetzt die Frauen, die nach dem Präsidenten
de Brosses „plus belles ici qu’en aucun autre endroit“ waren, den ganzen
Tag auf der Strasse hin; wenn die blauen Nächte glühten, die Melo-
dien über die Piazza flatterten, da gingen sie, umringt von mehr oder
weniger treuen Verehrern, mitten unter allem Volk, löffelten ihr Eis
im Café und spielten, fröstelnd und fiebernd vor Aufregung, bis der
grauende Morgen ins Fenster sah. Durfte die Patricierin vordem keinen
Mann im Hause begrüssen, so bildete sie jetzt den Mittelpunkt eines
gastlichen Salons, der häufig sogar literarischen Charakter trug, denn die
Venetianerin des Rococo interessirte sich für’s Theater, für Romane
und Gedichte, die ihr Rosen streuten, man riss sich um Gozzi und
Goldoni, die beiden grimmen Feinde, und während sie vorlasen, wurden
hinter einem Fächer bisweilen politische Intriguen gesponnen oder
Liebesnetze gewoben, feiner als Muranos zarteste Spitzen.

Der Tag verstrich der Patricierin schneller als einer Gentildonna
der Renaissance. Während der Gemahl früh das Lager verlassen musste,
um sich in den Senatssitzungen zu langweilen, erhob Signora sich erst
spät. Mehrere Stunden dauerte nun das Toilettemachen, und dem Cavaliere

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 471, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0471.html)