Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 463
Text
schaftlicher Ernst, ein fast zum Wahnsinn gewordenes Bedürfniss nach
völligster Einsamkeit, nach absoluter Losgelöstheit von aller Cultur,
Freundschaft und Liebe. Nur ein gedrückter, ja niedergetretener Mensch
konnte dieses Buch schreiben und ein Mensch vom höchsten Lebens-
instinct, der nur durch einen genialen heroischen Humor die Würde-
losigkeit und Unfreiheit seines bisherigen Daseins ertragen hat, der aber
nun endlich frei sein will, endlich ganz sich selbst gehören
Und so reist denn der arme Schlucker mit dem reichen Rechts-
anwalt nach Nowaja-Semlja, setzt diesem unterwegs seine ganze Welt-
anschauung und Ethik auseinander und liest ihm, theils zur Ergötzung,
theils zum Aergerniss, 66 Geschichten, Gedichte und Parabeln vor,
lauter phantastische Eingebungen, durch die er Müller zum »Antiero-
tismus« zu bekehren oder doch wenigstens vor ihm die eigene Art und
Existenz zu rechtfertigen sucht. — — —
Wer ist nun dieser Rechtsanwalt Müller? Und was ist der Antiero-
tismus?
Müller zunächst — der hat, ganz wie Schopenhauer’s Satz vom
zureichenden Grunde, eine vierfache Wurzel.
Erstens ist er — eben der Erotiker!
Zweitens ist Müller der Repräsentant des reichgewordenen Neu-
Berlins, ganz Correctheit, Pflichtbewusstsein, Schnurrbart und kalte
Schnauze.
Drittens ist leider nicht zu leugnen, dass er ein mit allerliebster
Bosheit zusammengerührter Extract von Scheerbart’s sämmtlichen
»Freunden« ist, den näheren wie den ferneren.
Dafür aber ist er auch viertens — und das ist gleichfalls nicht
zu leugnen — Scheerbart selber, wenigstens ein Stück von ihm, das,
welches zum Satz vom zureichenden Grunde schwört, und das man
auch Trivialismus oder Nicolaitismus benamset. Der »Dichter der
Sternenwelt« kokettirt zuweilen mit Plattitüde, und nicht ganz zu Un-
recht nennt er sich einen »Pedanten«. Das ist vielleicht ein sehr noth-
wendiger Gegenzug in Scheerbart’s geistiger Physiognomie, die sonst
leicht etwas Zerflatterndes bekäme. Und warum soll man nicht die
Trivialität einmal so gut wie alles Andere künstlerisch zu be-
wussten Zwecken zu verwerthen suchen?!
Trotzdem — diese »ernste« Mahnung richtet Scheerbart an uns
Alle! — müssen wir den »Müller« in uns bekämpfen! Denn »Müller«
ist das Niedere — und zwar mit dem Wahn, das Höhere zu sein. Er
ist das Herrschende und darum zu jenem Wahne scheinbar berechtigt.
Umsomehr drum müssen wir gegen ihn kämpfen! Aber — kann er
denn auch ausgerottet werden? Das wohl nicht! Müller und Tarub
sind beide unsterblich — Bagdads berühmte Köchin und Berlins be-
rühmter Rechtsanwalt
Was soll nun also die Antierotik? Scheerbart sagt, sie sei »das
Höhere«, das «wirklich« Höhere
Dieses Wort ist sehr fein gewählt. Enthält es doch keineswegs
eine Verurtheilung der Erotik! Die hat eben auch ihr Recht und ihren
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 463, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0463.html)