Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 464
Text
Werth. Sie ist bloss nicht »das Höhere«! Sie kann ja darum immer
noch für manch Einen »das Tiefere« sein — — jawohl, das Tiefere
Fragt Przybyszewsky! Fragt Félicien Rops!
Als »antistisches« Phänomen ist die Antierotik naturgemäss aus
ihrem Gegensatz hervorgegangen, nämlich aus der Erotik. Es wäre sehr
verwegen und gewiss nicht unbedenklich, wenn Jemand Antierotiker
sein wollte, der nicht vorher gründlichst und gewissenhaft Erotiker ge-
wesen wäre.
Die Antierotik ist im Sinne ihres »Begründers« ein Palliativ gegen
das Uebermass der Empfindung und Genussbegierde. Hinter ihrer Ent-
stehung schlummert ein Etwas von Galgenvogelweisheit und -Humor.
Ein »Enterbter dieser Erde«, der die feinsten Geniessernerven in sich
weiss, schafft sich seinen »Drüberstand«. Wie’s in einem Verslein der
»Tarub« heisst, ist es »schändlich« — »zu lieben ohne Geld«. Auf diese
Weise gebiert der Anticapitalismus ziemlich naturgemäss den Anti-
erotismus.
Mag sein, dass damit bloss die Gelegenheitsursache berührt ist.
Jedenfalls hat Scheerbart das ihm halbwegs Aufgezwungene als raffinirt-
virtuoser Opportunist in eine Art von neuer Heilswahrheit umzuwandeln
gewusst. Er macht aus der Antierotik eine Religion für Künstler. Sie soll
ihnen das vornehmste Mittel zur Selbstbehauptung im Daseinskampfe
sein. Sie bedeutet im gewissen Sinne nichts Anderes als: Hände frei!
Daher richtet sie sich keineswegs ausschliesslich gegen das Weib. Sie
richtet sich ebenso sehr gegen Kinder und Freunde, ja gegen die
Freunde ganz besonders. Und sie bekämpft ferner nicht bloss die
Sympathie, sondern auch die Antipathie, nicht bloss die Liebe, sondern
auch den Hass. Denn Antipathie und Hass bedrohen nicht minder als
Sympathie und Liebe die Gleichgewichtslage des Individuums, die
Schaffensmöglichkeiten des Künstlers.
»Die grossen Priester der Erde dürfen nicht lieben wie die ge-
wöhnlichen Menschen,« heisst’s in der »Tarub«.
Also ein Zug ins Priesterliche, eine Hinneigung zur Askese!
Aber niemals ist Askese unasketischer gepredigt worden. Die
angeborene, oft ausgelassene Genussfreudigkeit des Individuums bildet
sowohl in »Tarub« wie in »Ich liebe dich!« die sehr fühlbare Unter-
und Gegenströmung. In Allem webt ein fröhlicher Rausch, oft ein sehr
natürlicher.
Also abermals der entgegengesetzte Fall wie bei Nietzsche, wo
der angeborene, durch Erziehung verschärfte Asketismus den Anti-
asketiker erzeugt, weil der Werth des Lebens gleichsam neu entdeckt
und darum wie mit glühenden Zungen verkündet wird, mit all dem
Glänze eines gottberauschten Priesters! Und stets zittert dahinter die
innere Weltfremdheit und der wehmüthige Zauber heroischer Entsagung.
»Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte,«
sagte Nietzsche, und man spürt hindurch die Sehnsucht nach Weib
und Kind, die Sehnsucht des Asketikers. Wie ganz anders sagt Scheerbart,
und es kommt etwas über ihn wie düster auflodernder Fanatismus:
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 464, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0464.html)