Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 465
Text
»Ich würde mich für entwürdigt halten, wenn ich einen Nachkommen
erzeugen sollte.«
Mit diesem Satze scheint sich unser Antierotiker direct in Wider-
spruch zur Natur gestellt, wo nicht gar zum Wortführer decadenter
Instincte gemacht zu haben. Sind Decadenz und Hohespriesterthum
vielleicht miteinander verwandt?
So fragen wir. Indess, wir wollen vorsichtig sein. Die Natur ver-
langt vielleicht doch noch etwas mehr als die ewige Fortzeugung in
ungezählte Aeonen hinaus, sie strebt doch wohl auch zum vollendeten
Einzelexemplar hin, über das es eine unmittelbare Steigerung zunächst
nicht gibt, wie ja oft gerade die schönsten Blumen die unfruchtbaren
sind. So muss man es wohl verstehen, wenn Scheerbart sagt: »Wer
sich noch fortpflanzen will, ist nicht vollendet,« denn der Instinct der
Race verlangt vom Kinde eine Steigerung über den Vater hinaus. Wer
aber die Vollendung in einem fremden Wesen sucht, und sei’s auch in
der eigenen Descendenz, sucht sie nicht in sich selber. Trotzdem haben
wohl die meisten menschlichen Genies, die kinderlos geblieben sind,
dieses ihr Schicksal nicht als einen Segen, sondern als einen Fluch
empfunden.
Scheerbart aber fühlt in sich den Trieb, sein Princip bis in seine
radicalsten Consequenzen zu Ende zu denken, und schreckt dabei auch
vor dem nicht zurück, was absurd und widernatürlich klingt. Ja, er hat
daran eine naiv-perverse Freude, wie ein Curiositätensammler an irgend
einer aztekischen Monstrosität.
Seltsame Widersprüche! Er will uns von der Erde erlösen —
und er hat doch die Erde so lieb, in jedem Mückenschwarm und in
jedem Sonnenfarbenspiel! Er will uns das Lieben verleiden — und er
fühlt sich doch tief innerlich gedrungen, Alle zu lieben, jeden Einzelnen,
wie er auch sein mag, als eine »Offenbarung der Weltgeister«. Ja, das
ist seine besondere Klugheit und listige Rechthaberei, dass er im
Anderen nie — den Anderen, sondern stets nur den »Weltgeist« liebt.
»Ich liebe dich, Weltgeist!« — mit diesem emphatisch ausge-
sprochenen Wort schliesst sein Buch mit dem verfänglichen Titel, der
sich demnach als grimmige Ironie herausstellt
In der Antierotik schlummert also ein höchst seltsamer, durchaus
künstlerisch empfundener Asketismus, gar kein Moralismus und
ein nur sehr lauer Antisexualismus. Geht doch Scheerbart in generöser
Weitherzigkeit so weit, gelegentlich zuzugestehen, dass es weniger darauf
ankomme, den Sexualtrieb zu besiegen — als zu bekämpfen
Aber mag das Weib auch nicht gänzlich verpönt sein, der all-
gemein europäischen Ueberschätzung und Verklärung des Weibes tritt
Scheerbart mit Entschiedenheit entgegen, wenn auch im Tone einer
tändelnden Ironie.
Darin hat Scheerbart unbedingt Recht: das Knien vor einem
Weibe hat noch stets dem Manne seine beste Geisteskraft geraubt, hat
ihn mit Wahn und Trübsinn benebelt, in läppische und kleinliche
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 465, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0465.html)