Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 466
Text
Empfindeleien verstrickt und von seinen edelsten Zielen langsam-
tödtlich entfernt. Liebe kann und darf für den Mann wohl ein sonniges
Zwischenspiel, aber niemals Lebensinhalt sein. Sonst scheidet er aus
den Reihen der Kämpfer aus, wird zur stachellosen, weichlichen Drohne,
vielleicht sehr »elegant«, sehr »sympathisch«, aber so nichtig und inhalt-
leer wie jene typischen Helden französischer Romane, die von einem
Liebesabenteuer zum anderen taumeln und sofort ihr Dasein als zwecklos
und inhaltsleer empfinden, sobald einmal nicht in verborgener Seiten-
gasse ein Liebchen sehnsüchtig ihrer harrt. Kurz, dieser nichts als
erotische Mensch, der keinen Lebensinhalt hat, er darf auch nicht
länger Kunstinhalt sein. Er wird sich zurückziehen müssen vor dem
faustischen Menschen, der sich jetzt anschickt, aufs Neue den
Vordergrundsplan unserer Dichtung zu beherrschen, jener Mensch in
der nackten Ringerstellung, der der Erde ihr Mysterium und dem
Himmel seine Krone zu entreissen trachtet
Das ist das Ziel, auf das unsere Kunst ersichtlich hinarbeitet.
Und darum ist es gut, wenn sie von plumper Erotik und dumpfer
Schwüle und von der Erde selbst sich zu befreien strebt, sich vom
»Niederen« will »erlösen« lassen.
Eines jedoch darf nimmer vergessen werden — und Scheerbart,
wie mir scheint, hat das zuweilen vergessen oder möchte es sich doch
wegdisputiren, dass alles Kunstschaffen im Sexualleben wurzelt, dass,
wie die Religion nur »verkappte Wollust«, so auch die Kunst — trans-
ponirter Sexualismus ist. Schöpferdrang und Schöpfermacht sind im
Menschen nur einfach vorhanden. Das Ziel kann verschieden sein, die
Quelle bleibt dieselbe. Zeugerische Wärme, auch wo sie aufs Geistig-
Künstlerische sich richtet, entquillt — ganz allgemein genommen — stets
dem Geschlechtsboden. In jeder productiven Stimmung schwingt etwas
Erotisches leise mit, vielleicht unbemerkt, aber doch als erregendes
Moment unserer Kraftanspannung. Wir sind vielleicht nicht im Mindesten
»verliebt«. Aber irgend eine Sehnsucht, ein Verlangen durchrieselt uns.
Wir möchten etwas fassen und halten. Wir möchten aus uns etwas
gebären. Und so entsteht das Kunstwerk.
Es ist daher von sehr bedingter Richtigkeit, wenn Scheerbart sagt:
»Hat uns die erotische Bestie erst gepackt, so steht man bald am
Ende aller Kunst« Freilich, wo Erotik als »Bestie« auftritt, trifft das
zu. Da rennt sie lungernd und hungernd dem Menschen nach, scheucht
ihn aus Ruhe und Sammlung heraus. Aber oft, wenn die Liebe im
Abklingen ist, die Erregung aber noch anhält oder wenn eine Er-
innerung nachtönt oder eine Sehnsucht sich formt, dann tritt fast
greifbar die künstlerische Production aus den bebenden Kreisen unserer
zeugerischen Kräfte hervor
Im Scherze nennt sich Scheerbart wohl einen »Astropsychologen«,
im Gegensatze zu der bloss menschlichen Psychologie der Anderen.
Für ihn ist der Mensch nicht losgelöst zu denken von dem Stern, auf
dem er lebt, dem kleinen Erdplaneten. Für ihn sind die Menschen
nichts Anderes als — »Gedanken der Erde«.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 466, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0466.html)