Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 467

Der Dichter der Sternenwelt (Servaes, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 467

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DER DICHTER DER STERNENWELT. 467

Dass die Sterne »denken«, ist Scheerbart’s Lieblingsvorstellung.
Er lehnt sich aber gegen jede plump-anthropomorphische Vorstellungs-
weise auf, etwa als ob das Erdinnere mit lauter Gehirnmasse angefüllt
wäre, die nun wie ein Menschenkopf arbeite u. dgl. Nein, das Denken
eines Sternes vollzieht sich in den einzelnen Gehirnen der Menschen,
vollzieht sich in Allem, was lebendig ist. Diese Gedanken wogen auf
und nieder, zucken bald hier auf, bald da, strömen in einander über,
fliehen einander, bleiben und verharren und warten, bis sie neu in
Bewegung gesetzt werden. Die Lagerungsmöglichkeiten der Gehirn-
molecüle sind unendlich, und doch ist nicht eine Möglichkeit denkbar,
die nicht in den individuellen Möglichkeiten des Erdsternes ihren Grund
hätte. Auf anderen Sternen sind immer noch andere Möglichkeiten
vorstellbar, und auch diese in unendlichem Masse.

Der menschliche Begriff der »Unendlichkeit« ist eben sehr relativ.

Die Menschen als sternbedingte Wesen, die Sterne als kosmisch
bedingte Wesen, ein kurzer und einfacher Schluss, aber doch voll-
kommen genügend, um das Leben der Sterne in die Sphäre mensch-
licher Vorstellungsthätigkeit zu rücken, um mit der Schwungkraft der
Phantasie vom Irdisch-Menschlichen emporzuschweben ins Astral-Kos-
mische.

Die Sterne erscheinen jetzt als lebende, denkende, begehrende,
als individualisirte Wesen. Diesen kühnen Sprung hat Scheerbart ge-
wagt. Glücklicher als Safur, der an der alle Sinnenwelt überspringenden
Liebe zur Dschinne zerbrach, vermag er seiner Einbildungskraft eine
Spannweite zu geben, die vor der Ungeheuerlichkeit des Weltalls nicht
zurückschreckt. Das zeigte sich schon in seinem Erstlingswerke, dem
»Paradies«, das zeigt sich jetzt süsser und tiefer ausgereift in den
mannigfaltigen »kosmischen Novelletten« von »Ich liebe dich!«

Dass hier die Sterne ein wenig wie Menschen empfinden, oder
dass sie mit menschenhaften, wenn auch anders gestalteten Wesen be-
völkert sind, das bringt jene Zartheit und Innerlichkeit der Relation,
der wir nicht entrathen können, weil uns ohne sie diese Erdichtungen
ungeniessbar bleiben müssten. Wichtiger aber ist, dass mit Hilfe dieser
kosmischen Imaginationen unsere menschlichen Verhältnisse in un-
endlich weitere umfassendere Perspectiven gerückt werden, wo sich
das Kleine und das Grosse ganz neu und sicher von einander scheiden.

Dazu ist der Ton dieser Dichtungen durchaus nicht etwa ab-
stract. im Gegentheil oft von einer entzückenden Naivetät und Frische,
von keck-verschämter Schelmerei, in der gerade das Allerindividuellste
sich frech herauswagt.

In dieser kosmosophischen Phantastik, diesem Ueberspringen der
Erde drückt sich ein Seelenzustand aus, der für die Jahrhundertwende,
in der wir leben, sehr bezeichnend ist: ein nervöses tumultuarisches
Hinauswollen aus Allem, was hergebracht und gewöhnlich ist, ein
zitternder, glühender Drang nach neuen Bildern, unerhörten Visionen,
ein zum Paroxysmus gewordener Paradoxismus. »Ich — will —
Alles — anders
!« das ist die knappe und erschöpfende Formel,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 467, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0467.html)