Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 468
Text
in die Scheerbart die suchende Unruhe unserer Zeit hineinpresst. »Ich
will Alles anders!« Kein Begriff, kein Werth kann mehr standhalten.
Alles muss in sein Gegentheil umgestülpt werden, nicht um zu zer-
stören und zu vernichten, sondern um keine neue Schaffensmöglichkeit
unversucht zu lassen! Daher der Hang zum Bizarren und Barocken,
die Ehrfurcht fast vor dem Verrückten!
Mit seinem vielberührten Gegenpol, dem grossen Umwerther aller
Werthe, Friedrich Nietzsche, ist Scheerbart durch diesen einen ent-
scheidenden Zug doch wieder aufs Engste verbunden. Scheerbart ist
sogar noch radicaler, er will ja nicht einmal mehr »der Erde treu«
bleiben. Obgleich sich dies scheinbar gegen Nietzsche kehrt, ist es
doch thatsächlich erst die Consequenz aus Nietzsche. Leugnung jeg-
licher Realität — in der Phantasie! Aufbauen neuer Welten aus
irrealen Factoren — durch die Phantasie! — das ist bei Scheerbart
mehr als ein theoretischer Versuch, es ist bei ihm naiver vibrirender
Schöpferwille!
Es ist diejenige Art von dichterischer Bethätigung, die seinem
angeborenen Talent am meisten entspricht. In der extravagantesten
Phantastik vermag sich dieser eigenthümliche Mensch am impulsivsten
auszuleben. Er denkt nicht nach über das Räthsel seines Ich, er will
sich von den Wandlungen dieses Räthsels immer aufs Neue über-
raschen lassen.
»Was ich gestern war, bin ich heute nicht.
Jeder neue Morgen zeigt ein neu Gesicht.«
Nur im Festhalten dieses Unbegreiflichen ist Scheerbart zu be-
greifen. Alle anderen Deutungsversuche müssen an der schillernden
Buntscheckigkeit seines Wesens zersplittern.
Ununterbrochen ist seine Phantasie bei der Arbeit. Die Einfälle
strömen ihm zu in unübersehbarer Fülle. Aber wie ein weiser Archi-
tekt nimmt er jeglichen phantastischen Einfall auf, wendet ihn hin und
her, prüft ihn auf seine Entwicklungsmöglichkeiten. Und langsam, in
ungemein methodischer Arbeit, gestaltet er aus barocken »Katerideen«
neue fabelhafte Organismen, in Farben und Tonverbindungen, die allen
»irdischen» Erfahrungen spotten, mit Formconstructionen, die ungeheuer-
lich anmuthen, und die doch etwas suggestiv Bannendes haben.
Die Form dieser Phantasie ist, ihrem barocken Inhalt angepasst,
meist humoristisch gehalten, geht oft in tolle Ausgelassenheit über.
Und sehr oft vernimmt man den Anschlag jener »Ironie«, die schon
die Romantiker vom Anfange des Jahrhunderts gefordert haben, aber
nie recht im eigentlich künstlerischen Sinne zu verwerthen wussten.
Scheerbart kommt hier als Vollender der Tieck und Brentano, was
zur Beruhigung derer gesagt sei, die vielleicht einen ganz »traditions-
losen« Künstler in ihm wittern.
Der Scheerbart’sche Humor, so lustig er klingt, hat indess einen
dunklen, fast schmerzlichen Unterton. »Der Humor ist eine Ertragungs-
und Entsagungskunst. Er hat eine religiöse Ader,« heisst es an irgend
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 468, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0468.html)