Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 459
Text
Die Mystiker der zukünftigen Religionen werden gleicherweise an
die Helden aus »Sagesse« denken. Die Quelle der Extase und Anmuth
schwillt darin über für die Ewigkeit. Das Buch ist so seltsam und so
kräftig, dass es unerschöpflich an Empfindung scheint und ganze
Generationen ihren Durst daran stillen werden, ohne dass seine Kraft
je versiegt. Es ist rein, durchdringend und klar wie eine Eisnadel; es
beherrscht den religiösen Horizont und lässt weithin seinen Schnee-
schimmer leuchten. Und was von »Sagesse« gilt, wird sich auch für
einige Gedichte aus »Jadis et Naguère« — Verlaine studirt hier Laster
wie Langeweile und die Entkräftung — und einige Strophen der
»Romances sans paroles« als richtig erweisen.
Gibt es denn bei Baudelaire, diesem dunklen, leuchtenden Gärtner
der giftigen Blüthen, ein Gedicht, wo der Lebensekel, die Oede und
Leere unsterblicher dargestellt worden sind als in dem Sonett
»Langueur«? Der Dichter, der sich mit der ganzen römischen Decadenz,
mit dem ganzen in Erstarrung befindlichen Reiche identificirt, gibt so
die Zwecklosigkeit und das Traurige eines ferneren Handelns an.
Bloss die folgende kühne und tiefe Assimilation scheint uns ein
Meisterfund zu sein:
»Je suis l’Empire à la fin de la décadence.« — — In »Sagesse«
wimmelt es von unsterblichen Gedichten. Man braucht nur aufzu-
schlagen. — —
Es gibt Moralisten, die Verlaine sein ungeregeltes, heftiges, sünd-
haftes Leben vorgeworfen haben. Es fragt sich aber, ob man es nicht
vielmehr beklagen soll, wenn man sich an die Schreie der Reue, der
Weichheit, Demuth und Opferfreudigkeit erinnert, mit denen er seine
Sünden tilgen wollte. Gewiss! Mit einem Heiligen kann man hier aus-
rufen: O glückliche Fehler, fruchtbare, wunderbare Sünden!
In den Augen der Denker, gewiss aber in denen der Künstler, be-
fleckt sich die Dichtkunst nie, wenn sie mit einem Kunstwerk in den
Händen in Aufrichtigkeit, eingestandenem Elend, verherrlichtem Jammer
selbst aus dem Abgrund ersteht.
Nun kenne ich kein packenderes, siegreicheres, schöneres Gebet
auf der Welt als:
Oh, mon Dieu, vous m’avez blessé d’amour — —
Aus den »Romances« und »La Bonne Chanson« könnte ich zahl-
reiche Gedichte citiren, die ebenso von menschlicher wie diese von
himmlischer Liebe erfüllt sind. Auch sie stehen unter dem Zeichen
absoluter Schönheit und machen den Eindruck der Unsterblichkeit.
Gestützt auf diese drei Bücher, gestützt auf ihre glühendsten
Seiten, wage ich es, den Dichter, den ich hier feiere, »gross« zu nennen.
Durch sie hat er sich unsterblich gemacht, durch sie hat er sich die
Zukunft erobert. Sein Andenken wird fortleben in den Herzen Aller,
die ihn verstanden, die seine gequälte, kampfreiche, naive Seele gekannt,
an deren Ohr seine unsterblichen Töne geklungen. — — —
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 459, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0459.html)