Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 458

Text

458 VERHAEREN.

küste und spiegelte sich im endlosen Glanze der Wellen. Sie war bald
die einzige Stimme, der er lauschte, und an den Tagen, an denen er
die Segel hisste, um seinem Traumlande, der Gleichheit und Brüder-
lichkeit, entgegenzusteuern, an diesen Tagen beugte sie sich kühnen
Körpers, starren Auges wie eine Chimäre vorn über sein Schiff, ihre
Stimme tönte, und Hände und Brüste waren den menschlichen Festen
der Zukunft entgegengestreckt.

Paul Verlaine dagegen war ein Musiker und dann ein Emotiver.
Er vergeistigte die Sprache; die Schattirungen, die weichen Biegungen,
die Gebrechlichkeit des Satzes lockten ihn. Er machte köstliche,
fliessende, weiche Sätze. Sie schienen ein fast unmerkliches Säuseln
der Luft; ein Flötenton im Schatten, bei Mondschein; das flüchtige
Rascheln eines Seidenkleides im Winde; das bebende Klingen von
Gläsern und Krystallgegenständen auf einer Etagère. Manchmal ent-
hielten sie einzig und allein die weiche Geberde zweier sich ineinander-
faltender Hände. Die Reinheit, Durchsichtigkeit, Unschuld der Dinge
ward wiedergegeben. Paul Verlaine erforschte die bald sanften, bald
brausenden Tiefen der menschlichen Seele. Er studirte manche Laster
der Decadence; er feierte die traute, lautlose Zärtlichkeit. Er besang
namentlich den Mysticismus.

Diese heftige und heilige Extase, dieses Schmelzen des Herzens
in dem Gluthherzen eines Gottes, diese fessellose, tolle, absolute Liebe,
die jenseits von Hölle und Himmel, jenseits von Vergeltungs- oder
Züchtigungsgedanken steht, diese göttliche Bangigkeit waren nie so
wiedergegeben worden, weder in der französischen, noch in irgend
einer anderen modernen Literatur.

Es wird der ganz besondere Ruhm Paul Verlaine’s sein, ein
Kunstwerk erdacht, erlebt und errichtet zu haben, welches für sich
allein die Wiedergeburt der Idealität und des Glaubens widerspiegelt,
deren stetiges Aufblühen man in den letzten Jahren gesehen hat.

Aber genügt es, dass ein Buch derart einer zeitweiligen Umkehr
der Ideen und Tendenzen enspricht? Genügt es, dass ein Werk mit
gewissen allgemeinen Aenderungen übereinstimmt, um sich lange Dauer
zu sichern? Ich glaube es nicht. Man kann höchstens behaupten, dass
die ersten und wichtigsten Bedingungen für seine Dauer vor-
handen sind.

Daneben muss es in sich ein solches Seelenleben tragen, muss
so menschlich und tief sein, dass es brüderlichen Geistern in der Zu-
kunft unmöglich wird, darüber wegzusehen.

Ein Kunstwerk ist ein Theil des Weltgewissens. Derjenige, der
es geschrieben, musste, sei er nun heldenhaft oder leidenschaftlich, zur
selben Zeit sein Wesen vervielfältigt und ewig fühlen. Die Griechen,
die jetzt gegen die Türken kämpfen, sie messen sich an den Griechen
Homer’s; die Liebenden, die sich trotz aller Widerwärtigkeiten lieben,
erkennen sich in Julia und Romeo; die Väter, Mütter, Gatten, die
von inneren Qualen verzehrt werden, sie denken an Lear, Andromache
und Othello.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 458, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0458.html)