Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 457
Text
»Romances sans paroles« und namentlich »Sagesse« vollkommen selbst-
ständig auf. Diese Arbeiten sind keine Unterthanen mehr, sie sind
Königinnen. Es wohnt ihnen eine besondere, noch nicht dagewesene
Kunst inne; sie erheben Jenen, der sie geschrieben, über die beiden
oberwähnten Dichter.
Das Gesammtwerk Paul Verlaine’s ist die Geschichte eines Kampfes.
Er selbst hat es bestätigt. Fleisch und Geist haben sich seine Seele
streitig gemacht. Der Kampf war jener, den alle gelitten haben oder
bis zu dem Tage leiden werden, wo das Immerschwächerwerden des
christlichen Geistes, die Uebereinstimmung der beiden antiken Gegner dem
menschlichen Gewissen Friede und Einheit verschafft haben wird.
Verlaine hat nie die Ruhe gekannt. Der Schmerz wirft ihn der Reue,
das Vergnügen der Busse, die Freude der Trauer und Verzweiflung in
die Arme. Sein Wesen ist von Angst geschüttelt oder durch das Gebet
verklärt; es glüht bald in Laster, bald in Tugend. Rothe Flammen
oder weisse Strahlen verwüsten oder erleuchten es mit ihrer Gluth
oder Helle. Er ist ebenso Mensch wie Christ. Und diese seine Doppel-
natur hat er als grosser Dichter ausgedrückt, besungen und unsterblich
gemacht.
Ich sage »grosser Dichter«. Ich will beweisen, dass Paul Verlaine
diesen höchsten Titel verdient. — — —
Ein grosser Dichter ist der, welcher seine Persönlichkeit so innig
mit Schönheit durchdringt, dass er ihr eine neue und von da an ewige
Haltung verleiht.
Zuerst scheint er nur sein eigenes Ich zu geben, zu rühmen, zu
preisen; aber da zeigt es sich, dass dieses auserwählte Wesen so sehr
übereinstimmt mit den Ideen seines Jahrhunderts, mit der stetigen
Entwicklung der Menscheit, dass es zum Allgemeingewissen wird. Da
gibt es denn Begegnen, Gedankentausch und Harmonie. Individualität
und Allgemeinheit verschmelzen. Auf der einen Seite: Schaffen, auf
der anderen: Dankbarkeit; auf der einen freudiges Geben, auf der
anderen Empfangen.
Manchmal folgen die grossen Dichter einander wie Gegensätze.
Victor Hugo war ein Maler und Träumer. Er materialisirte die
Sprache. Er bearbeitete den Satz wie ein Hautrelief, hob dessen Höhen
und Niederungen hervor, kleidete sie in strahlende Farben.
Er stöberte die Dictionnaire durch, um Worte zu finden, die den
Steinen und Metallen gleichen. Die reichen, elektrischen Töne schillerten.
Eine Verschmelzung kräftiger Schattirungen machte Feuermähnen aus
seinen Versen.
Oft ward der Maler zum Bildhauer, und der Tross der in Stahl
und Blitz gekleideten Reime durchritt bei Hörnerklang die echoreichen
Thäler der Romantik.
Im Reiche des Gedankens fand er, auf ihrem Berge sitzend,
die Utopie. Er nahm sie bei der Hand, führte sie seinem Werke zu
und gab sie den Personen seiner Dramen und Romane bei. Sie theilte
mit ihm die Verbannung in Guernesey. Sie betrat mit ihm die Meeres-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 457, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0457.html)