Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 455

Gedichte in Prosa (Baudelaire, Charles)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 455

Text

GEDICHTE IN PROSA. 455

sich in schreiende und schmerzliehe Gefühlszuckungen um.
Schon beginnt die Tiefe des Himmels mich zu erschrecken;
seine Klarheit höhnt mich; mich betäubt die Gefühllosigkeit
aller Dinge, die Ruhe des Alls

Wer die Schönheit sucht, findet das Leiden; und der
Versuch, die Geheimnisse der Natur zu erfassen, ist ein Zwei-
kampf, in dem immer der Künstler unterliegt

IV. Rausch.

Berauschet euch! Dies ist aller Fragen letzte Lösung.
Auf dass ihr die furchtbare Last des Lebens nicht fühlt, die
eure Schultern zerdrückt und euch zur Erde beugt: Geht
hin und berauschet euch!

Woran? Am Wein, an Gedichten, an Begeisterung —
woran ihr wollt. Berauschet euch!

Und wenn ihr dann manchmal erwacht, auf den Tep-
pichen im Palaste, im grünen Rasengrund eines Strassen-
grabens, in der Einsamkeit eures Zimmers, und der Rausch
ist verflogen: dann fragt den Wind, die Wogen, die Sterne,
fragt Alles was flieht, fragt Alles was seufzt, fragt, welche
Stunde es sei; und Wind, Wogen, Sterne, sie werden euch
antworten: Die Stunde ist da, sich zu berauschen.

Seid nicht die keuchenden Knechte des Lebens —
berauschet euch!

F. R.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 455, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0455.html)