Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 454
Text
Ungleich den Festen der Menschen spielt sich hier eine
schweigende Orgie ab.
Und ein immer stärker werdendes Licht macht alle
Dinge lebendiger: die Farbenglut der Blumen wetteifert mit
dem Azur der Himmelsdecke: und sichtbar geworden stei-
gen die Düfte, Rauchsäulen gleich, zum Firmament.
Da durchhricht ein Laut des Schmerzes die Wonne aller
Creaturen.
Zu den Füssen einer riesigen Marmor-Venus liegt ein
Narr: einer jener Lustigmacher, die die Könige erheiterten,
wenn Reue oder Langweile sie quälten. In schreiender und
lächerlicher Vermummung, klingende Hörnchen auf der
Kappe, erhebt er seine Augen zur unsterblichen Göttin.
Und seine Augen sagen: »Siehe! Ich bin aller Menschen
letzter und einsamster; Liebe und Freundschaft kannte ich
nie; ich bin viel niedriger denn die Thiere. Und doch bin
ich geschaffen auf dass ich die Schönheit begriffe! Habt
Mitleid, Göttliche, mit meiner Verzweiflung!«
Aber unbeweglich blickt die Göttin ins Weite mit
ihren Marmoraugen.
Es gibt Herbstabende, die in uns durchdringende Em-
pfindungen hervorrufen; durchdringend bis zum Schmerze!
Denn das Unbestimmte gewisser köstlicher Eindrücke schliesst
die Intensität nicht aus; und nichts hat für uns schärfere
Spitzen als das Unendliche
Einsamkeit herrscht und Schweigen; unvergleichliche
Keuschheit des Azur! Fern am Horizont ein weisses Segel,
einsam und ruhlos, wie ich; und die See heult die mono-
tonen Melodien der Ewigkeit: alle diese Dinge denken
durch mich, oder ich durch sie — im Reich des Traumes
verliert sich das Ich schnell: sie denken in Tönen und Far-
ben, ohne Spitzfindigkeiten, ohne Trugschlüsse, ohne Fol-
gerungen.
Und diese Gedanken, ob sie nun von mir oder von den
Dingen ausgehn, gewinnen mählich immer mehr Intensität.
Die Energie der Lustaffecte erzeugt Unbehagen und Schmerz;
die Schwingungen der allzu gespannten Nerven setzen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 12, S. 454, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-12_n0454.html)