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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 716

Text

716 NOTIZEN.

den rothen Adlerorden vierter
Classe erhalten!

Ueber die Kritik, ihr Wesen und
ihre Bedeutung, ist viel und allzu-
viel schon geredet worden; und seit
dem Jahrhundertanfang, da die
Schlegel noch feierlich das grosse
literarische Richtschwert führten,
hat bis zu Harden und Lemaître
fast jede Generation ihren eigenen
Begriff von Kritik gebildet. Ihre
Werdemotive und Hintergründe
sind in Dunkel gehüllt; am ehesten
könnte man sie vielleicht aus dem
unbewussten Rachebedürfniss der
Allgemeinheit gegen den über-
ragenden Einzelnen erklären, von
Thersites, dem ersten Kritiker, bis
herunter zu Herrn Nordau. Darum
ist ihre Art immer bezeichnend
für den Geist des jeweiligen Ge-
schlechtes. War sie einst ein
Schwert, so ist sie jetzt ein chirur-
gisches Messer; galt der Kritiker
einst als Wächter vor dem Tempel
des Ruhms, alle Erscheinungen
danach beurtheilend, ob seine
ästhetischen Sprüchlein auf sie
passten oder nicht, so ist er jetzt
der Mittler geworden, der den
Leuten seine intellectuellen Erleb-
nisse mitzutheilen trachtet. Er be-
lehrt nicht mehr, er geniesst; aus
dem Herold der Herdenmeinungen
ist er der Künder der Unerkannten
geworden. Höchstentwickelte Sen-
sitivität, vereinigt mit dem Distanz-
gefühl des Geistes-Weltumseglers;
ein durch lange Leiden und schmerz-
hafte Wandlungen bis zum Hell-
sehen geschärfter innerer Blick;
endlich der auf Instinctverfeinerung
beruhende grosse Styl und die mo-
ralische Unbefangenheit des Esthe-

ten: dies und noch einiges Andere
kann einen wahrhaft modernen
Kunstbeurtheiler ergeben. Auf dem
Gebiete der Malerei gibt es heute
einen solchen: Richard Muther.
Bei uns in Wien freilich nimmt
man es nicht so genau, man hat
wie auf anderen Gebieten auch hier
etliche Jahrzehnte verschlafen, und
unsere Kunstweisen lassen sich im
Grossen und Ganzen in zwei
Gruppen theilen: in solche, die nur
von der Malerlei nichts verstehen,
und in andere, deren Bildung auch
sonst auf dem Niveau der Garten-
laube steht. Ihr Erstaunen jeder
complicirteren Erscheinung gegen-
über hat etwas rührend Komisches;
so führt z. B. in den Feuilletonspalten
eines unserer einflussreichsten Blätter
ein solcher Atta Troll seine kunst-
kritischen Tänze auf, deren Drolligkeit
den eingefleischtesten Hypochonder
erheitern könnte. Wenn man aber
dann bedenkt, dass weite Kreise
dies bodenlos bornirte Gerede ernst
nehmen und sich danach ihr Ur-
theil bilden, so wundert man sich
nicht mehr über die unsagbare
Misère unserer Culturzustände;
wenn man die Gleichgiltigkeit be-
trachtet, mit der man bei uns in
solchen Fragen die unfähigsten
Ignoranten zu Wort kommen lässt,
begreift man die Geringschätzung,
mit der in Europa der Name
»österreichisch« ausgesprochen wird.
Und man muss an das Wort
Lassalle’s denken von der geistigen
Brunnenvergiftung, »die auf die
Dauer nicht einmal das geistreichste
aller Völker, das griechische Volk,
hätte überstehen können«.

El-Gabal.



Herausgeber und verantwortlicher Redacteur: Rudolf Strauss.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 716, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0716.html)